Bin ich richtig? Normal? Gut? – Viele von Euch werden vermutlich traurig den Kopf schütteln. So oft lese ich es in Kommentaren auf meiner Facebook-Seite oder auch in privaten Nachrichten: „Anderen bin ich zu kompliziert, zu anstrengend. Ich bin nicht so, wie andere mich gerne hätten. Daher bin ich allein und einsam.“ Ablehnung, fehlende Wertschätzung, Ausgrenzung von anderen, vor allem von der eigenen Familie und von nahestehenden Menschen, führen dazu, dass wir uns selbst ablehnen. Ein ausgeprägter Selbsthass ist Folge dieser negativen Selbstwahrnehmung und ein Problem von Tausenden von Menschen.
Selbsthass – im Konflikt mit mir selbst
Wie lange habe ich mich fehl am Platze gefühlt? Falsch auf der Welt? Fremd in der Familie? Ich fühlte mich anders als die anderen. In meinem eigenen Leben fühlte ich fremd.
Oftmals bekam ich zu hören, ich sei zu sensibel, solle nicht bei jeder Kleinigkeit rumheulen und müsse mir ein „dickeres Fell“ wachsen lassen. „Wenn ich weinen muss, dann geh ich einfach pullern.“, sagte man mir einmal. Klingt ja fast witzig, wenn es nur nicht so traurig wäre.
„Ich mit meinen Gefühlen bin also falsch.“, verankerte sich als fester Glaubenssatz in mir. Aber warum? Warum bin ich nicht so wie die anderen? Warum bin ich nicht „richtig“? Was habe ich falsch gemacht, dass ich selbst falsch bin?
Als Kind und Jugendliche fand ich natürlich nie darauf eine Antwort. Verschiedenste Erfahrungen mit Ausgrenzung, Ablehnung und Mobbing führten nur dazu, dass sich diese Überzeugung noch mehr in mir manifestierte.
Der Fehler musste eindeutig bei und in mir liegen. Anders kann es gar nicht sein! – Diese Überzeugung hinterfragte ich bald nicht mehr und nahm sie stattdessen blind an. Da ich die vermeintlich negativen Gefühle wie Wut und Traurigkeit irgendwie rauslassen musste, dies aber niemand bemerken sollte, verletzte ich mich selbst.
Im Teufelskreis von Selbstablehnung und Selbstverletzung
Mein selbstverletzendes Verhalten wurde zu meiner bizarren Überlebensstrategie und zu meiner (vermeintlichen) Konfliktlösung zwischen dem Selbsthass und mir selbst. Denn auf der einen Seite wollte ich leben, hatte ein paar Träume und Vorstellungen – auf der anderen Seite fühlte ich mich in meinem Sein so falsch, dass ich Todessehnsüchte und Suizidgedanken entwickelte. Lange Zeit dachte ich, dass ich wohl keine 18 Jahre alt werden würde.
Nicht, weil ich sterben wollte, sondern weil ich nicht mehr leben konnte.
Doch selbstverletzendes Verhalten ist NIE eine Lösung. Erst recht keine langfristige. Es hat mich eher nur noch stärker in den Sumpf von Selbstverachtung und Selbsthass gezogen.
Jahrelang war ich in dem Teufelskreis des selbstverletzendem Verhalten gefangen: Kurzfristig verschaffte es mir einen inneren Frieden. Es war mein Ventil, um aufgebaute Anspannung und all den Druck in mir rauszulassen. Sogar ein Gefühl der Erleichterung nahm ich oftmals wahr.
Doch schon bald realisierte ich die Wunden und sah, was ich mir angetan hatte. All das Blut und die Narben, dass war hässlich anzusehen. Ich selbst fühlte mich hässlich. Scham und Wut über mein eigenes Verhalten machte sich in mir breit. Dies war reichhaltige Nahrung für meinen Selbsthass und führte zu erneutem Druck und innerer Anspannung …
Mein Ausweg aus dem Selbsthass
In meinem ersten Tagesklinik-Aufenthalt (2012) wurde der erste Baustein für den wirklich richtigen Weg zu mir selbst gesetzt: Man sagte uns dort, dass alle Empfindungen richtig sind und das wir alle diese Gefühle spüren dürfen.
Es gibt keine falschen, negativen oder bösen Emotionen!
Was hier so schnell und einfach daher geschrieben ist, hat noch einiges an Jahren und Arbeit gedauert, ehe ich auch nur ansatzweise in mir fühlen konnte, was diese Aussage bedeutet. Ich war noch zweimal in dieser Tagesklinik, zudem in einer medizinischen Reha, habe am STEPPS-Training (Fertigkeiten- und Verhaltenstraining zur Emotionsregulation und Verhaltenssteuerung) teilgenommen und befinde mich seit knapp zwei Jahren in ambulanter tiefenpsychologischer Therapie.
Zusätzlich fing ich an, mich in Selbsthilfegruppen zu engagieren und mich online mit anderen Betroffenen auszutauschen. Gerade die Unterhaltungen mit anderen Betroffenen einer psychischen Erkrankung führten dazu, dass ich mich weniger alleine fühlte. Andere waren ähnlich wie ich, hatten mehr oder weniger denselben Innenarchitekten für ihre Seele wie ich.
Erkenntnis: Ich bin NICHT der einzige Mensch mit Depressionen, Angststörungen und intensiven Gefühlen, die gerne Achterbahn fahren. ICH WAR UND BIN NICHT ALLEIN!
Ausschließlich dieses Wissen änderte natürlich nicht sofort mein Gefühl und löschte auch nicht sofort meine fest verankerten inneren Glaubenssätze. Doch alles zusammen (Therapie plus Austausch mit anderen), war Nahrung für die neuen Glaubenssätze, die ich aus der Klinik mitgenommen hatte:
Alle meine Empfindungen sind richtig. Jedes Gefühl darf ich wahrnehmen, spüren und ausleben.
ICH BIN RICHTIG!
Von den Menschen, die mir meine Gefühle abredeten und mir den Eindruck vermittelten, dass ich falsch sei, habe ich mich nach und nach abgewandt.
Dies ist auch der springende Punkt: Niemand von uns kommt falsch auf die Welt. Jedes neu geborene Baby auf der Welt ist richtig! Es wird oftmals nur leider so erzogen, dass es sich irgendwann falsch fühlt …
Es war ein langer und steiniger Weg, doch ich durfte neue Menschen kennengelernen. Menschen, die mich nicht deshalb mögen, weil ich ihren Erwartungen entspreche, sondern weil ich so bin wie ich bin. – Mit MEINEN Gedanken und MEINEN Gefühlen!
Ergo: Ich bin ja doch gar nicht so verkehrt, wie ich all die Jahre dachte. Nun, ich bin vielleicht nicht so der 08/15-Stereotyp und gehöre nicht zu den Menschen, die wie frisch aus dem Katalog gesprungen aussehen, aber dass ist ja nicht gleich bedeutend mit verkehrt-sein. (Die Frage ist sowieso, ab wann jemand „verkehrt“ ist und ob es das überhaupt gibt.)
Dadurch, dass ich – mit Unterstützung – lernte, meine Gefühle wahrzunehmen, ihnen „zuzuhören“ und sie auch anzunehmen, dadurch konnte ich mich als Menschen annehmen.
„Wer seine Gefühle leugnet, verleugnet sich selbst!“
~ unbekannt
Durch den Prozess der Annahme und Akzeptanz meiner Selbst – in welchem ich mich übrigens immer noch befinde und welcher vielleicht nie so „richtig“ zu Ende ist – konnte ich neue Ziele und Wünsche entwickeln.
Ob ich mich selbst liebe, weiß ich nicht so genau, jedoch finde ich mich und mein Leben inzwischen ziemlich dufte. Es fühlt sich mittlerweile wert- und sinnvoll an. Vor allem bin ich mir selbst dankbar, dass ich nie aufgegeben habe – auch wenn ich dies mehr als einmal wollte.
Zudem mag ich meine Sensibilität und meine intensiven Gefühle mehr, als das sie mich stören. Sie sind oftmals hilfreich und zeigen mir ihren Nutzen. Natürlich ist es mir noch manchmal unangenehm, wenn mir aus unterschiedlichsten Gründen ein paar Kullertränen die Wange runterlaufen und dies irgendjemand anderes bemerkt.
Doch ich weiß, dass dies völlig in Ordnung ist. Für mich. Und für die Menschen, die mich so akzeptieren und mögen wie ich bin. Und wer dies albern findet, der versteht auch meine Tränen aus Trauer nicht. Denn all dies geht Hand in Hand.
„Wenn Dir jemand sagt, Du seist zu sensibel und empfindsam, dann trage Dein weiches Herz mit Stolz. Denn die Welt braucht einen Ausgleich, für die aus Stein und Holz.“
~ unbekannt
Die Gefühle, egal wie stark und intensiv sie sind, gehören zu uns Menschen.
Sie machen uns Menschen aus.
Sie ermöglichen Menschlichkeit.
Und das kann doch nicht falsch sein!?
Vom Selbsthass zur Selbstliebe ist es ein ziemlich langer Weg und durchaus ein sehr schwieriger Prozess. Wunden und Überzeugungen, die einem jahrelang beigebracht worden sind, kann man nicht innerhalb von Tagen abbauen oder verändern.
ABER es ist auch nicht unmöglich, dass es einmal anders wird, als es jetzt ist. Ich glaube daran, dass auch ihr richtig seid. Genauso wie ich – wir sind auf unsere Weise richtig, so wie andere auf ihre Weise richtig sind!
Lass dir niemals einreden, du wärst nichts wert. Glaube an dich. Denn du bist aus einem bestimmten Grund genau so, wie du bist. Denn es gibt Menschen, die dich genau so wollen, wie du bist.
~ unbekannt
Wenn ihr Interesse an einer Selbsthilfegruppe vor Ort habt, dann schaut mal bei NAKOS (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung für Selbsthilfegruppen) vorbei. Gerne ist auch jeder in meiner Facebook-Gruppe „Ja zum Gefühl“ willkommen.
Ich wünsche Euch die Kraft und den Mut, Euren Weg mit Euren Gefühlen in der Welt weiterzugehen. Vor allem wünsche ich Euch Hoffnung, dass ihr Euer Leben auf Erden wiederfindet und ihr für Euch selbst wertvoll und richtig werdet.
Wie hast Du Deinen Weg aus dem Selbsthass gefunden? Vor welchen Herausforderungen standest Du ganz besonders und wie hast Du diese gemeistert? Auch interessiert mich, was Dich davon abhält bzw. daran hindert, Dich selbst mehr anzunehmen und dem Selbsthass den Rücken zu kehren! – Ich freue mich auf einen Kommentar von Dir!
9 Kommentare zu „Selbsthass – Fühlst Du Dich noch falsch oder bist Du schon DU?“
Was für ein inspirierender Blog! Ich finde es beeindruckend, wie du an dieses Thema heran gehst. Es gibt viel zu wenige Menschen, die ihre Gefühle und Erfahrungen offen mit Anderen teilen (können), so wie du es hier tust. Depressionen, aber auch psychische Krankheiten im Allgemeinen werden ja bekanntlich gerne „tot geschwiegen“. Du bist einen weiten Weg gekommen und nur wenige Menschen werden verstehen, wie schwer er war.
Vielen Dank!
DU BIST RICHTIG, SO WIE DU BIST.
Lieber Martin,
ganz vielen Dank für Deine lieben Worte.
Viele liebe Grüße,
Nora
„Sei nicht so empfindlich“, das hab ich als Kind auch immer wieder gehört. Irgendwann habe ich etwas über Hochsensibilität gehört und finde mich da eins zu eins wieder. Und wenn man sich damit beschäftigt, sieht man auch die Vorteile. So kann man sich zb besser in andere hineinversetzen, was gerade auch bei einigen Berufen von Vorteilen ist. Ich muss eben sehr auf meine Bedürfnisse achten, um in meiner Mitte zu bleiben. Aber dann ist das eben so.
Ja, so sehe ich das auch. Vielen Dank für Deine Worte, Nadja.
Ich wünsche Dir alles Gute,
Nora
Hey Nora,
ich habe deinen Blog ein bisschen gelesen und bin erstaunt wie stark du bist, ich wünschte ich wäre das auch
Hey Lars,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Nun ja, was heißt „stark“? Also ja, ich bin im Laufe der Zeit schon stärker geworden, viel mehr hab ich jedoch gelernt, meine Schwächen zu akzeptieren – so auch, mich zu akzeptieren.
Ging alles nicht von heute auf morgen und vieles dauert noch bis morgen … aber es wandelt sich. Und ich bin mir sicher, so ist das auch bei Dir. So oft merken wir es „nur“ nicht.
Ich wünsche Dir für Deinen Weg ganz viel Kraft und dass auch Du in Dir das Wachsen Deiner Stärke bald spürst.
Viele liebe Grüße aus Berlin,
Nora
Versuche nicht jemand zu sein, der du nicht bist.
Du bist der, der du bist.
DU bist DU!
Ja, so sehe ich das inzwischen auch. Vielen Dank, Claus 😉
Genau mein Snsatz! Du bist Du!