Die Diskussion über psychische Gesundheit hat in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Gesellschaftliche Tabus wurden langsam abgebaut, immer mehr Menschen trauen sich, offen über ihre Erfahrungen mit Depressionen, Angststörungen oder anderen psychischen Erkrankungen zu sprechen. Doch der Vorschlag von Carsten Linnemann, ein Register für psychisch kranke Menschen einzuführen, droht diese Fortschritte zunichtezumachen. Warum dieser Vorstoß nicht nur problematisch, sondern auch gefährlich ist – für psychisch Erkrankte als auch „nur“ für psychisch erkrankte Gewalttäter:innen – und welche Alternativen es gibt? Lies gerne weiter:
Wer ist Carsten Linnemann und was fordert er?
Carsten Linnemann ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und ein prominentes Gesicht in der deutschen Politik. Kürzlich forderte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die Einführung eines Registers für psychisch kranke Gewalttäter:innen. Er argumentierte, dass es bereits Register für Rechtsextremist:innen und Islamist:innen gebe, jedoch keines für psychisch kranke Gewalttäter:innen, und betonte die Notwendigkeit eines behördenübergreifenden Austauschs, einschließlich der Zusammenarbeit mit Psychiatrien und Psychotherapeut:innen. Weiterhin sagte er: „Es reicht nicht aus, Register anzulegen für Rechtsextremisten und Islamisten, sondern in Zukunft sollte das auch für psychisch Kranke gelten.“ 04:40 (DLF Interview)
Linnemann behauptet, dass Behörden mit einem solchen Register früher eingreifen könnten, um Straftaten zu verhindern. Doch dieser Ansatz wirft nicht nur ethische und rechtliche Fragen auf, sondern beruht auch auf einem verzerrten Bild psychischer Erkrankungen.
Warum ein Register ein Rückschritt ist
Die Idee eines Registers für psychisch kranke Menschen ist aus mehreren Gründen problematisch:
- 1. Schublade statt Hilfe
Wenn Du weißt, dass Deine Daten notiert werden, wenn Du Dir fachliche Hilfe bei psychischen Problemen/Erkrankungen holst, gehst Du dann zum Psychiater oder zur Psychiaterin? Öffnest Du Dich Deinem Hausarzt oder Deiner Hausärztin? Würdest Du von irgendwo Hilfe annehmen? – Also, ganz offen: Ich nicht. Es würde bei mir viel mehr Scham schüren, ich würde meine eigenen Probleme verstecken und versuchen, alles oder zumindest vieles mit mir alleine auszumachen. Schließlich möchte ich nicht die „Verrückte“ sein, die in so einem Register steht. Noch dazu einem Register, welches in Zusammenhang mit Gewalttaten steht. Ich selbst identifiziere mich als Frau. Ich habe keine Probleme, zu meiner Erkrankung oder zu meinen Gefühlen zu stehen. Jetzt nehmen wir aber mal einen Mann bzw. männlich gelesene Person, die nach dem Stereotyp des „starken Geschlechts“ erzogen wurde und aufgrund dessen sich schwer tut, Hilfe bei psychischen Problemen anzunehmen. All die Anti-Stigma-Arbeit der letzten Jahre wäre allein aufgrund eines solchen Registers zunichte gemacht – vor allem für männlich gelesene Personen bzw. Männer. Wir alle, egal welchen Geschlechts, sollten bei einer psychischen Erkrankung bzw. psychischen Problemen auf der Liste von Fachpersonal stehen – nicht aber in einem Register, das in Zusammenhang mit Gewaltprävention zusammen hängt. - 2. Stigmatisierung und Diskriminierung
Ein solches Register würde Menschen mit psychischen Erkrankungen direkt mit potenzieller Kriminalität in Verbindung bringen. Es sendet die Botschaft, dass Betroffene überwacht werden müssen, weil sie eine Gefahr darstellen könnten. Dieses Narrativ ist nicht nur unwahr, sondern auch äußerst schädlich. Studien zeigen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen wesentlich häufiger Opfer von Gewalt werden, anstatt selbst Täter:in zu sein.
- 3. Vertrauensverlust in das Gesundheitssystem
Ein Register würde viele Betroffene davon abhalten, sich Hilfe zu suchen. Die Angst, in einer Datenbank erfasst zu werden, könnte dazu führen, dass Menschen ihre Erkrankungen verschweigen und keine professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Das würde nicht nur individuelle Schicksale verschärfen, sondern auch die öffentliche Gesundheit insgesamt gefährden.
- 4. Wissenschaftlich unbegründet
Die Annahme, dass psychische Erkrankungen ein Hauptfaktor für Gewaltkriminalität sind, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Gewalt hat oft komplexe Ursachen, die soziale, wirtschaftliche und psychologische Faktoren umfassen. Psychische Erkrankungen spielen in den meisten Fällen keine zentrale Rolle.
- 5. Gefahr des Missbrauchs
Ein solches Register birgt das Risiko des Missbrauchs. Wer garantiert, dass die erfassten Daten nicht für diskriminierende Maßnahmen oder soziale Ausgrenzung verwendet werden? Die Einführung eines Registers könnte eine gefährliche Tür öffnen, die in eine gesellschaftliche Überwachung führt.
Oder ist es nicht vielleicht doch hilfreich, wenn es gar nicht alle psychisch Erkrankten betrifft, sondern nur jene, die bereits gewalttätig wurden?
Register für psychisch kranke Gewalttäter:innen – sinnvoll oder fragwürdig?
Ein Register, das sich ausschließlich auf psychisch erkrankte Personen konzentriert, die bereits gewalttätig geworden sind, mag auf den ersten Blick wie eine sinnvolle Präventionsmaßnahme erscheinen. Es könnte theoretisch den Behörden helfen, potenziell gefährliche Situationen frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren. Doch auch in dieser spezifischen Form bleibt das Konzept ethisch fragwürdig und problematisch, aus folgenden Gründen:
- 1. Stigmatisierung und Diskriminierung
Selbst wenn sich das Register nur auf gewalttätig gewordene Personen bezieht, bleibt die Assoziation zwischen psychischen Erkrankungen und Kriminalität bestehen. Dies verstärkt das gesellschaftliche Vorurteil, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen eine Gefahr darstellen, obwohl die Mehrheit von ihnen nicht gewalttätig ist. Solche Stereotype können Betroffene davon abhalten, sich Hilfe zu suchen, aus Angst, stigmatisiert oder registriert zu werden. Ähnliches Problem haben wir bereits dadurch, dass Menschen mit dem Hintergrund einer psychischen Erkrankung bzw. Therapieerfahrung keinen Beamt:innenstatus erwerben können. So sinnvolle Präventionsprojekte wie zB „Kein Täter werden“ würden danach noch weniger in Anspruch genommen werden. Gerade aufgrund der Anonymität trauen sich Betroffene (bzw. in dem Fall potenziell Straffällige), Hilfe anzunehmen – dort werden sie nicht verurteilt oder stigmatisiert, sondern erhalten Hilfe. Genau das braucht es, um eine Veränderung in der Gesellschaft hinsichtlich Prävention von Psychischen Erkrankungen als auch Gewalttaten/Straftaten zu ermöglichen. - 2. Unklare Definitionen und Abgrenzungen
Ein weiteres Problem liegt in der Definition: Wer entscheidet, welche psychischen Erkrankungen und welche Gewalttat relevant genug sind, um in ein solches Register aufgenommen zu werden? Diese Abgrenzung birgt die Gefahr von Willkür und Ungleichbehandlung. Leichte psychische Störungen könnten unverhältnismäßig stark kriminalisiert werden, während andere relevante Faktoren, wie soziale Umstände, unberücksichtigt bleiben. - 3. Gefahr des Missbrauchs und der Datenleckagen
Ein Register mit sensiblen Informationen über psychische Erkrankungen birgt erhebliche Risiken des Missbrauchs. Daten könnten in falsche Hände geraten oder für Zwecke genutzt werden, die ursprünglich nicht vorgesehen waren, wie Diskriminierung bei der Arbeitsplatzsuche oder in sozialen Kontexten. - 4. Ineffektivität in der Prävention
Gewalt ist ein komplexes Phänomen, das selten auf eine einzelne Ursache wie eine psychische Erkrankung reduziert werden kann. Soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren spielen oft eine entscheidende Rolle. Ein Fokus auf psychische Erkrankungen könnte dazu führen, dass andere, wichtigere Präventionsmaßnahmen vernachlässigt werden. Zum Thema rund um Gewaltprävention (als auch Prävention sexualisierter Gewalt) empfehle ich die Website und Arbeit von der Kriminologin Kristina Straßburger. - 5. Fehlender Fokus auf Behandlung und Unterstützung
Statt ein Register zu führen, wäre es sinnvoller, Ressourcen in die Behandlung und Prävention zu investieren. Frühzeitige psychologische Betreuung, der Ausbau von Therapiemöglichkeiten und ein besseres soziales Unterstützungsnetzwerk könnten wesentlich effektiver sein, um Straftaten zu verhindern. - 6. Verletzung der Persönlichkeitsrechte
Die Erfassung in einem Register greift massiv in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen ein, insbesondere wenn es um Gesundheitsdaten geht. Solche Eingriffe müssten klar gerechtfertigt und rechtlich abgesichert sein – und selbst dann bleibt die Frage, ob sie verhältnismäßig sind.
Fazit: Eine verfehlte Lösung
Auch wenn das Register auf straffällig gewordene Personen beschränkt wird, überwiegen die negativen Folgen. Es löst nicht das Kernproblem der Gewaltprävention, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf eine spezifische Gruppe, die ohnehin häufig stigmatisiert wird. Die Gesellschaft sollte sich stattdessen darauf konzentrieren, systematische Prävention und Unterstützung zu fördern, um Gewalt und Straftaten unabhängig von psychischen Erkrankungen vorzubeugen.
Nicht jeder Mensch mit einer psychischen Erkrankung wird gewalttätig! Nicht jede:r Gewalttäter:in hat eine psychische Erkrankung. Wir können und dürfen gewalttätige Menschen und ihr Verhalten nicht per se pathologisieren, denn Pathologisierung lenkt von der Verantwortung des Individuums und der Gesellschaft ab, Lösungen für die tieferliegenden Probleme zu finden.
Gewalttaten entstehen aus einem komplexen Zusammenspiel von individuellen, sozialen und situativen Faktoren, die weit über eine mögliche psychische Erkrankung hinausgehen. Armut, soziale Isolation, familiäre Gewalt, Machtstrukturen oder ideologische Überzeugungen spielen oft eine entscheidende Rolle. Indem wir Gewalt ausschließlich mit psychischen Erkrankungen in Verbindung bringen, vereinfachen wir ein vielschichtiges Problem und übersehen die eigentlichen Ursachen, die angegangen werden müssen. Gleichzeitig stigmatisieren wir Millionen von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die in der überwältigenden Mehrheit friedlich und harmlos sind. An dieser Stelle verweise ich sehr gerne nochmal auf die wertvolle Arbeit von der Kriminologin Kristina Straßburger.
Ein Angriff auf den gesellschaftlichen Fortschritt
In den letzten Jahren hat sich die Gesellschaft in Bezug auf psychische Gesundheit weiterentwickelt. Es gibt Initiativen, die darauf abzielen, das Thema zu enttabuisieren und Verständnis zu fördern. Prominente sprechen offen über ihre Kämpfe mit psychischen Erkrankungen, und die Zahl der Hilfsangebote wächst. Ein Register würde all diese Fortschritte gefährden.
Statt Menschen zu unterstützen, die ohnehin schon mit den Herausforderungen einer psychischen Erkrankung kämpfen, würde ein solches Register sie weiter isolieren. Es würde ein Klima der Angst schaffen, in dem Offenheit und Hilfesuche bestraft werden.
Was können wir stattdessen tun?
Der Fokus sollte nicht auf Überwachung, sondern auf Unterstützung und Prävention liegen. Hier sind einige sinnvolle Alternativen:
- 1. Aufbau eines flächendeckenden Versorgungsnetzes
Psychologische Beratungsstellen, Kliniken und Therapiepraxen müssen besser ausgestattet werden, um den wachsenden Bedarf zu decken. Lange Wartezeiten und überfüllte Praxen sind ein großes Problem.
- 2. Sensibilisierungskampagnen
Öffentlichkeitskampagnen könnten dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und ein besseres Verständnis für psychische Erkrankungen zu schaffen. Wir haben nationale Aufklärungskampagnen zum Thema Drogen, HIV oder auch Alkohol am Steuer – aber keine zum Thema Suizidprävention …
- 3. Niedrigschwellige Angebote
Anonyme Beratungsangebote, Online-Therapien und kostenlose Erstgespräche könnten den Zugang zu Hilfe erleichtern. Hier wäre vor allem wichtig, die Bedarfszahlen der benötigten Therapieplätze anzupassen (denn diese basieren tatsächlich auf Zahlen von 1999 …)
- 4. Förderung von Präventionsprogrammen
Programme an Schulen und Arbeitsplätzen könnten frühzeitig helfen, psychische Belastungen zu erkennen und zu behandeln. Hier wären auch finanzielle Förderungen von öffentlichen Programmen und Angeboten wichtig. Es ist einfach unglaublich, dass z.B. u25 Deutschland (ein Präventionsprogramm für Menschen u25 mit Suizidgedanken) dieses Jahr fast ihre Förderung verlor.
- 6. Mehr Forschung und Bildung
Investitionen in die Forschung zu psychischen Erkrankungen und eine bessere Ausbildung von Fachkräften könnten die Versorgung langfristig verbessern. Hierbei denke ich auch an die Verabschiedung des längst überfälligen Suizidpräventionsgesetzes …
Ein Blick in die Zukunft
Die Forderung nach einem Register für psychisch kranke Menschen ist nicht nur ein Angriff auf individuelle Freiheitsrechte, sondern auch auf die Solidarität und das Mitgefühl, die eine moderne Gesellschaft ausmachen sollten. Anstatt Menschen mit psychischen Erkrankungen zu stigmatisieren und auszugrenzen, müssen wir sie stärker in die Mitte unserer Gesellschaft holen.
Psychische Gesundheit ist kein Randthema, sondern betrifft uns alle. Jede:r kann im Laufe seines Lebens von einer psychischen Erkrankung betroffen sein. Deshalb ist es unsere gemeinsame Verantwortung, ein Umfeld zu schaffen, in dem Betroffene ohne Angst vor Diskriminierung Hilfe suchen und erhalten können.
Ein Register für psychisch Kranke mag auf den ersten Blick nach einer einfachen Lösung für ein komplexes Problem klingen. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es mehr schadet als nützt. Es ist an der Zeit, klügere, humanere und wirksamere Wege zu gehen.