
In Gesprächen über Panikattacken und Angststörungen begegnet mir immer wieder ein Phänomen: Die großen Fortschritte passieren nicht laut. Sie haben keinen Applaus. Keine Medaille. Keine Instagram-Schriftzüge in Pastellfarben. Oft sind es die kleinen Alltagsmomente, die am meisten bedeuten – gerade, wenn man sie früher kaum ausgehalten hat. Bei mir? War das jahrelang ein ganz normaler Friseurtermin. Spoiler: Es ging nie um die Frisur.
Nachfolgend eine kurze Übersicht, worum es in diesem Beitrag geht – Du kannst gerne direkt zu den einzelnen Abschnitten springen, in dem Du sie anklickst:
Friseurbesuch mit Panik? Been there.
Friseurtermine waren für mich lange kein Ort der Entspannung, sondern ein Paradebeispiel für Reizüberflutung. Geräusche, Gerüche, Nähe, Unvorhersehbares – alles in Kombination mit einem Stuhl, aus dem ich nicht einfach aufstehen konnte, wenn mein Nervensystem „Flucht!“ brüllte. Ich saß da, lächelte, während innerlich ein Feuerwerk aus Angst tobte. Smalltalk? Ging meistens – aber nur äußerlich. Innen drin war Dauerstress.
Wichtig ist mir dabei zu sagen: Angst ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil – sie rettet Leben. Sie sorgt dafür, dass wir vor dem Überqueren der Straße nach links und rechts schauen oder beim Geräusch quietschender Reifen automatisch bremsen. Sie ist also eigentlich unser Schutzengel.
Aber bei Menschen wie mir, die an einer Angststörung erkrankt sind, ist dieser Schutzengel dezent übermotiviert – und nahezu ständig im Einsatz. Das bedeutet: Mein Angstzentrum, genauer gesagt meine Amygdala, schlägt selbst dann Alarm, wenn keine reale Gefahr besteht. Noch bevor mein Großhirn einschätzen kann, ob die Situation wirklich bedrohlich ist, hat mein Körper schon auf Notfallmodus geschaltet: Herzrasen, Schweißausbrüche, Atemnot, Schwindel.
Rational weiß ich: „Du sitzt beim Friseur, alles gut.“ Aber diese Info kommt viel zu langsam an – wie mit einem klapprigen Fahrrad, während die Panik mit einem Ferrari durch mein System rast. So entstand aus einem simplen Friseurtermin eine massive Belastungssituation.
Ich hatte nicht nur Angst währenddessen – ich hatte Angst vor der Angst. Allein der Gedanke an das Still-Sitzen-Müssen, das „Eingeschlossensein“, die körperliche Nähe zum Friseur (bzw. der Friseurin), die Enge am Hals von diesem Friseurumhang (nennt man den so?), dieses „Ich kann jetzt hier nicht einfach gehen.“ hat gereicht, um mein Nervensystem durchdrehen zu lassen. Es ging nicht um die Frisur. Es ging ums Überleben. Gefühlt jedenfalls.
Das Gute, wie das schlechte: Von außen hat man das meist nicht gesehen. Ich hab funktioniert. Mit angespannter Miene oder sogar einem Lächeln. Während innerlich alles nach Flucht geschrien hat.
Zwischen Selbstfürsorge und Panikattacken
Selbstfürsorge. Klingt nach Duftkerze, Tee, Schaumbad und einem Buch, das man nie zu Ende liest, weil man dabei so herrlich wegdöst. Und ja – für manche Menschen ist das genau das Richtige. Aber für Menschen mit Angststörung oder Panikattacken ist Selbstfürsorge oft das genaue Gegenteil von Entspannung.
So oft hört man Sätze wie:
- „Gönn Dir doch mal was.“
- „Tu Dir was Gutes.“
- „Lass Dir die Haare schneiden, Nägel machen, bisschen Me-Time.“
Klingt harmlos. Wohlmeinend. Und manchmal fast wie ein Vorwurf, wenn man’s nicht umsetzen kann. Aber was, wenn genau diese „Gönn Dir“-Momente für Dich Auslöser von Angst sind?
Was, wenn der Friseurbesuch nicht Wellness bedeutet, sondern eine Reizhölle aus Nähe, Geräuschen, Ausgeliefertsein? Was, wenn Du schon beim Gedanken an Smalltalk, Stille oder nicht einfach aufstehen können innerlich zusammenklappst?
Selbstfürsorge ist kein Pauschalrezept.
Sie ist nicht automatisch wohltuend – und schon gar nicht immer Instagram-tauglich. Für manche ist sie ein Spaziergang. Für andere: auf der Couch lümmeln. Lange Zeit war ich nicht zum Friseur oder zu einer Friseurin gegangen, weil ich wusste, mein Nervensystem hält das gerade nicht aus. Das hat sich irgendwann geändert (darauf gehe ich später noch drauf ein). Wichtig ist mir, dass Außenstehende und vielleicht auch wir Betroffenen selbst verstehen, dass Selbstfürsorge oftmals kein „Ich gönn mir mal was.“ ist, sondern ein „Ich kämpfe mich da jetzt durch.“ oder auch ein „Ich sag bewusst ab, verschieb den Termin und stehe trotzdem zu mir.“ Bewusstsein. Mit Pause. Mit einem Friseur, dem ich vertraue.
Selbstfürsorge ist oft kein „Ich gönn mir was“.
Sondern ein: „Ich kämpf mich da durch.“
Oder ein: „Ich sag bewusst ab und steh trotzdem zu mir.“.
Selbstfürsorge ist so ein Buzzword in unserer heutigen Zeit, was ich mit verschnörkelten Schriftzug und Pastellfarben assoziiere, wenn man die ganze Werbung dafür sieht (Apropos: Kennst Du den Selbstlernkurs von Psychologin Lisa Hartmann und mir „Selbstfürsorge – verstehen, anwenden, fühlen“?). Für viele von uns ist Selbstfürsorge aber roh. Unordentlich. Emotional.
Und so oft besteht Selbstfürsorge schlichtweg darin, sich nicht zu verurteilen, wenn man etwas nicht schafft.
Für mich war der Moment, wieder beim Friseur zu sitzen, nicht nur „Me-Time“. Es war eine Rückeroberung. Kein Luxus. Sondern ein Statement: Ich bin bereit, meinem Leben Stück für Stück Raum zurückzugeben.
Exposition light – wie ich zurück in den Friseurstuhl fand
Wenn ich Dich bitte einmal direkt de-influencen darf:
CBD-Öl? – Nein!
Nahrungsergänzungsmittel? – Nein!
Dankbarkeitsübungen? – Auch nicht!
Und bevor Du denkst, das war mein erster Versuch nach einer langen Phase voller Panik: Nope. Ich bin seit längerer Zeit panikfrei. Und ja – es war auch nicht mein erster Friseurbesuch seitdem. Aber: Es war einer dieser Momente, in denen ich ganz bewusst wahrgenommen hab, wie viel sich verändert hat. Und genau deshalb erzähl ich davon. Denn nein, ich hab’s auch nicht „einfach durchgezogen“. Ich bin nicht reingelaufen, hab mich hingesetzt und gedacht: „So, jetzt oder nie!“
Ich hab mich vorbereitet. Innerlich. Mit all den Tools, die ich mir in den letzten Jahren erarbeitet habe: Atemtechniken, Visualisierungen, Inneren Helferlein, Innere-Kind-Arbeit, kleine Expositionen im Alltag. Und ganz wichtig: Reflexion. Was stresst mich konkret? Wo sind meine Grenzen? Und wie kann ich mich absichern, ohne mich zu vermeiden?
Ich bin nicht mutiger geworden. Ich bin stabiler geworden. Ich hab gelernt, meinem Körper wieder ein Stück weit zu vertrauen. Und mir selbst.
Vor dem Termin hab ich mir die Erlaubnis gegeben, alles darf sein: Wenn’s zu viel wird, darf ich gehen. Wenn ich zwischendurch eine Pause brauch, sag ich was. Ich hab meinen Nervensystem signalisiert: Du bist nicht ausgeliefert. Ich bin da.
Und das war der eigentliche Schritt: Nicht der Schnitt. Nicht das Sitzenbleiben. Sondern dass ich nicht mehr gegen mich gearbeitet habe.
Es war keine klassische Konfrontationstherapie. Kein dramatischer Showdown mit der Angst. Aber es war ein verdammt wichtiger Moment. Still. Kraftvoll. Und ja, irgendwie auch bewegend.
Die Basis für all diese Selbsthilfe-Methoden war hierbei kein überteuerter Selbstlernkurs “ Für immer angstfrei“ vom selbsternannten Heiler Otto, sondern Psychotherapie und Medikamente.
Was mir bei meiner Genesung wirklich geholfen hat
Spoiler: Es war kein „positives Denken“. Aber irgendwie wäre es schön, wenn es so einfach wäre, oder? „Einfach“ mal aufs Mindset konzentrieren, mir selbst fünf Affirmationen vorm Spiegel zuflüstern (natürlich mit einem Lächeln im Gesicht) und dann barfuß im Morgentau die Angst wegatmen …
Ja, sorry, Realität hier: Ich hatte keine Instagram-würdige Heilung. Ich hatte Psychotherapie. Ich nahm und nehme Medikamente. Und ich hatte Rückschläge.
Aber irgendwann gab es auch die Fortschritte.
Und offen gesagt: Ich schreibe hier, dass ich keine Panikattacken mehr habe – zugleich habe ich dennoch noch eine Angststörung und einige Baustellen. Das ist natürlich jetzt nicht so nice, aber es schränkt mich nicht mehr so krass in meinem Leben ein.
Mein Weg raus aus den Panikattacken war kein glatter. Und auch kein geradliniger. Es war ein Mix aus verschiedenen Bausteinen – und alle waren wichtig:
🖤 Psychotherapie, in der ich gelernt habe, meine Symptome zu verstehen, sie einzuordnen – und vor allem: mich selbst nicht länger dafür zu verurteilen. Ich hab meine Muster erkannt, Auslöser reflektiert und Stück für Stück wieder Handlungsfähigkeit aufgebaut.
🖤 Medikamente, die mir geholfen haben, überhaupt wieder in einen Zustand zu kommen, in dem Lernen und Verändern möglich war. Die Angst war so laut, dass ich anfangs kaum atmen, geschweige denn denken konnte – die medikamentöse Unterstützung hat mir Luft verschafft. Im wahrsten Sinne des Wortes.
🖤 Selbsthilfe-Strategien, die mich durch den Alltag getragen haben: Emotionsregulation, Atemtechniken, Exposition in Mini-Mini-Schritten, Innere-Kind-Arbeit, Visualisierungen, Selbstmitgefühlsübungen, meine Inneren Helferlein. Dinge, die mir Halt gegeben haben, wenn’s wackelig wurde.
🖤 Menschen, die mich nicht bewertet haben. Die nicht mit „Aber Du siehst doch gar nicht krank aus!“ kamen. Die so oft „einfach“ da waren. Zugehört haben. Mit mir mitgegangen sind – auch dies im wahrsten Sinne des Wortes, wenn es um Einkäufe, Restaurantbesuche oder das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln ging. Es brauchte keinen Ratschlag, keine Worte, oftmals schlichtweg Akzeptanz für die Situation und viel Verständnis. (In diesem Sinne ganz liebe Grüße an meinen Partner, der mir gerade gegenüber am Schreibtisch sitzt …).
Und last but so, so wichtig:
🖤 Geduld. Mit mir. Mit meinem Tempo. Mit den Rückschritten. Und mit dem akzeptieren, dass diese Rückschritte keine Niederlagen sind, sondern ein Teil des Weges.
Jeder kleine Schritt zählt (auch wenn ihn niemand sieht)
Was für andere Alltag ist, ist für mich ein Fortschritt. Es sind oft nicht die großen Veränderungen, die Genesung sichtbar machen. Es sind die kleinen, unscheinbaren Schritte, die niemand filmt, die keine Likes kriegen – aber Dich selbst stolz machen (können und dürfen).
Ein Friseurbesuch. Ein Gespräch. Eine durchgestandene Situation ohne Flucht. Für andere ist das Alltag. Für mich war es lange ein Kraftakt. Und manchmal ist es das auch heute noch.
Ich möchte Dir gerne Mut machen, Deine eigenen Mini-Meilensteine zu sehen. Auch wenn sie keiner mitbekommt oder vielleicht niemand anderes sie wertschätzen (kann). Du weißt, was sie Dich gekostet haben. Und genau deshalb zählen sie.
Nicht „trotzdem“. Sondern gerade deswegen.