Du sagst so oft, ich soll die Dinge von früher ruhen lassen, nicht in der Vergangenheit graben, nicht soviel darüber nachdenken. Du sagst, ich soll loslassen und vergessen.
Wie gerne möchte ich mit meiner Vergangenheit abschließen und meinen Blick in die Zukunft richten. Weißt Du, ich sehne mich nach einem Leben, dessen Gegenwart nicht so stark durch meine Vergangenheit beeinflusst wird.
Ich möchte so gerne loslassen und vergessen! Doch bitte, stell Dir einfach mal folgendes vor:
Nach einem schönen Tag legst Du Dich abends schlafen. Du bist müde und erschöpft und möchtest in der Nacht einfach nur Deine Ruhe finden. Schon bald schläfst Du ein und verschwindest im Reich der Phantasie und Träume.
Das Problem hierbei? Du träumst von dem Tag, dem Moment, der Dein Leben auf den Kopf stellte.
Alles ist wie damals. Die Geräusche, die Gerüche, die Menschen. Das ganze grausame Ereigniss erlebst Du im Traum nocheinmal. Intensiv spürst Du Deine Gefühle von damals – Deine Angst, Deine Verzweiflung, Deine Hilflosigkeit.
Schweißgebadet und nach Luft ringend wachst Du zitternd auf. Du blickst Dich um, Du musst Dich orientieren – wo bist Du? In welchem Haus bist Du? Liegt jemand neben Dir? Welches Jahr schreiben wir?
So langsam realisierst Du, dass es „nur“ ein Traum war und Du in Sicherheit bist. Du redest Dir gut zu, dass jetzt alles gut ist und Du und andere nicht in Gefahr sind. Du weißt, Dir kann hier nichts passieren.
Du stehst auf und machst Dich wie gewohnt für den Tag fertig. Dir ist noch ziemlich flau im Magen, der Traum ist noch sehr präsent. Dennoch zwingst Du Dich zu einem kleinen Frühstück.
Angespannt und nervös verlässt Du die Wohnung um zur Arbeit zu gehen. Du hast noch überlegt, Dich krank zu melden – am liebsten möchtest Du Dich in der Wohnung verstecken und unter der Bettdecke verkriechen.
Aber nein, Du willst stark sein, also zwingst Du Dich rauszugehen.
Unterwegs drängen sich Dir die Erinnerungen aus dem Traum auf. Du versuchst Dich abzulenken mit Musik auf den Ohren, einem Buch oder Deinem Handy. Mit rasendem Herzen entfernst Du Dich Meter für Meter von Deiner Wohnung.
Die Zeit auf Arbeit will nicht vergehen. Du kannst Dich kaum konzentrieren – Bilder und Gedanken aus dem Traum fliegen durch Deinen Kopf. Deine Hände zittern, obwohl es 30 Grad sind. Du versuchst, Dir vor Deinen Kolleg*innen nichts anmerken zu lassen. Du willst nicht, dass sie mitbekommen, dass es Dir schlecht geht. Es würde ja doch niemand verstehen – schließlich ist das Ereignis schon so viele Jahre her …
Du versuchst Deiner Arbeit also nachzugehen. Du schaffst es sogar, mal ein paar Minuten oder eine halbe Stunde nicht an den Traum zu denken.
Doch was gegenwärtig bleibt ist das Herzjagen, die Schwindelgefühle und die Übelkeit.
Endlich! Feierabend. Erleichtert, den Arbeitstag bewältigt zu haben, machst Du Dich auf den Heimweg. Die Gedankenspirale um Deinen Traum und das Ereignis von vor vielen Jahren ergreift wieder Besitz von Dir.
Vom Kopf her weißt Du, es war „nur“ ein Traum. Du weißt, dass Du gar nicht in Gefahr bist, dass Du Dir ein sicheres Leben aufgebaut hast. Du weißt, es ist jahrelang her, als es passierte.
Das weiß Dein Kopf. Doch Deine Gefühle nicht.
Die spielen verrückt. Du spürst an diesem doch eigentlich schönen sommerlichen Tag dieselbe Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit wie im Traum. Wie an dem Tag vor vielen Jahren.
Zuhause angekommen, möchtest Du am liebsten einfach nur ins Bett fallen und schlafen. Aber Du hast Angst davor.
Angst davor, dass sich der Traum wiederholt. Angst davor, dass Du es noch einmal erleben musst. Sobald Du die Augen zumachst, spielt sich vor Deinen Augen die grausame Szene von vor vielen Jahren nochmal ab … Also lässt Du die Augen offen und starrst aus dem Fenster …
Irgendwann schläfst Du dennoch ein …
Ich möchte stark sein und versuche mich zusammenzureißen
Weißt Du, so ein Tag oder so ein Traum kommt vielleicht nur einmal im Jahr vor. Manchmal aber auch einmal im Monat oder sogar jede Woche. Und das Herzrasen, die Anspannung und der Zustand der Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit hält Tage, wenn nicht gar Wochen an.
Immer wieder rede ich mir ein, dass es doch schon Jahre her ist. Ich versuche mich „zusammenzureißen“, ich will stark sein. Und kaum habe ich es ein bisschen geschafft, macht so ein Traum alles kaputt und ich bin schon wieder in meinem Gefühlschaos gefangen.
Und dann kommt jemand wie Du, der/die einfach sagt, ich solle die Sachen doch endlich mal vergessen, loslassen und ruhen lassen …
4 Kommentare zu „Loslassen – und was mich daran hindert“
Hallo Nora,
ich bin gestern auf deinen Blog gestoßen und ich bin beeindruckt was Du hier auf die Beine gestellt hast. Deine Berichte lassen sich einfach sehr gut lesen und auch nachfühlen.
Ich bin 34 Jahre und in Behandlung aufgrund einer Depression, welche nun schon seit etwa 2 Jahren anhält, seit dem Kontaktabbruch zu meiner „Mutter“ und letztendlich der ganzen Familie. Es war erst regelrecht befreiend und absolut notwendig. Ich konnte nicht mehr. Hatte keine Kraft mehr all die Demütigungen, Kälte und Vernachlässigungen seit der führen Kindheit, welche sich noch bis ins Erwachsene Alter hinzog, auszuhalten.
Ich war nie in der Lage mich gegen meine narzisstische Mutter zu wehren oder mich auch nur zu erklären, meine Gefühle und mein Leid mitzuteilen. Wie auch, ich wurde mein ganzes Leben lang klein gemacht, keine Liebe/Zuneigung – keine Zuflucht. Niemanden, der mich in den Arm nahm, mir meine Ängste und Unsicherheiten weg tröstete.
Mein Vater hat schon immer weggesehen, er ist feige, unfähig und steht unter dem Pantoffel dieser Frau. Er lässt sich seine Klamotten noch heute von Ihr herauslegen und ertränkt seinen eigenen Kummer „heimlich“ in Alkohol. Ich hätte ihn gebraucht als Kind – Er hat mich hängen lassen, damals wie heute.
Meine Schwester, 6 Jahre älter als ich – das Sonnenkind und der verlängerte Arm meiner Mutter. Manipuliert und unselbstständig erzogen, ist angewiesen auf ihre Mutter. Auch das offensichtliche Übel wird mit rosaroten Wölkchen vernebelt. Mit aller Macht hält Sie ihre „schöne“ Welt aufrecht. Ich bin ihr nicht böse, auch wenn sie ein Hinterhältiges egoistisches Miststück ist. Mittlerweile sehe ich vieles klarer, kann verstehen, warum Sie ist, wie Sie ist.
Sie tut mir leid!
Mir fehlte es an nichts, ich hatte genug zum Essen, bin in ordentlichen Verhältnissen aufgewachsen – nach außen hin eine intakte glückliche Familie. Aber ich war allein.
Verloren und allein in dieser Familie. Schon in meiner Kindheit habe ich mich unbewusst
weggeräumt, habe mich unwohl und nicht als Teil dieser Familie gefühlt.
Ich war/bin das schwarze Schaaf.
An mir hat meine Mutter ihren ganzen Frust abgelassen, ich war unfähig und zu nix taugte ich etwas. Mit etwa 7 Jahren habe ich wieder angefangen ins Bett zu machen, das hielt an bis ich 12 oder 13 Jahre war. Ein Alptraum. Die verschämten Blicke, die Angst vor dem einschlafen. Meine „herzliche“ Mutter hat mir angedroht das vor meiner gesamten Klasse und Lehrern zu erzählen, wenn es nicht aufhört. Ich hätte solche Angst, ich wusste ja selbst nicht, was mit mir nicht stimmte. Ich habe mich so geschämt.
Folgende Grundsätze meiner Mutter haben sich besonders eingeprägt:
Ach, was du schon wieder hast!
Hab dich nicht so!
Heute bin ich stark verunsichert, kann nur sehr schwer Entscheidungen treffen, bin sehr angepasst und habe starke Probleme mit größeren Menschenmengen und dabei meine ich schon so ab 10 Personen.
Es ist ein Auf und Ab. Ich bin in psychotherapeutischer Behandlung und durch Anti-Depressiva einigermaßen funktionsfähig. Ich kämpfe mich von einem Tag zum anderen.
Ich bin träge und kraftlos und am liebsten verbarrikadiere ich mich zu Hause. Ich komme nicht raus aus dieser furchtbaren Traurigkeit. Angefangen hat es mit der Geburt meiner Tochter (4), meine süßeste Maus auf dieser Welt. Sie ist mir so nah wie kein Anderer und ich liebe Sie über Alles. Mit der Geburt meiner Tochter kam Alles nach und nach wieder hoch in mir, alles was ich zum Selbstschutz verdrängt hatte. Ich hatte hartnäckig versucht weiter weg zuschauen, wie lieblos meine Mutter mit ihrem Enkelkind umgegangen ist, wenn Sie diesem überhaupt mal Interesse entgegen brachte.
Da kam der ganze Zorn, die erstickte Wut, Fassungslosigkeit und Verzweiflung in mir hoch und brach zusammen.
Ich möchte das Alles hinter mir lassen und endlich abschließen. Aber wie?!
Die Vergangenheit lässt mich nicht los und in der Gegenwart trauere ich um das, was ich nie hatte – ein Fundament aus Geborgenheit und Sicherheit.
Eine Mutti, die mich lieb hat und die ich lieben kann.
Liebe Annika,
vielen Dank für Deine offenen Worte, die mich doch sehr traurig machen. Vieles von dem Du schreibst, kann ich nachempfinden und ich weiß, wie schmerzhaft es ist, sich in einer Familie alleine zu fühlen. Gerne würde ich Dir den ultimativen Tipp geben, wie Du damit umgehen kannst – aber ich kann es nicht! Zu sehr gibt es noch in meinem Leben Momente, in denen ich mich einfach nach mütterlicher Liebe und Geborgenheit sehne.
Die Therapeuten und auch mein Psychiater meinten, ich müsse lernen, mir das selbst zu geben. Ich als erwachsene Nora müsse der kleinen Nora (das innere Kind) das geben, wonach sie sich sehnt. Eine Freundin kümmert sich um ihr inneres Kind, indem sie dafür eine Puppe oder ein Kuscheltier in den Arm nimmt und sich vorstellt, dass sie das wäre. Ich selbst habe mal einen Schal gestrickt und gedacht, dass ich mir damit etwas mache, was mich wärmt (stimmt, darüber wollte ich eigentlich nochmal nen Beitrag schreiben!).
Hintergrund dabei ist, etwas zu finden, was dem kleinen Kind in Dir gut tut und wodurch es Dir etwas besser geht. Das ganze wird die Sehnsuchtsgefühle nach mütterlicher bzw. väterlicher Liebe gewiss nicht wegpusten, aber es ist ein Weg, dem inneren Kind etwas näher zu kommen. – Kannst du darüber mit Deiner Therapeutin reden?
Ob man jemals damit abschließen kann, weiß ich nicht. Aber ich habe die Hoffnung, dass ich irgendwann besser damit umgehen kann – und dass ist das, was ich Dir von Herzen wünsche: Die Kraft, weiterhin eine tolle Mami für Deine Tochter zu sein, den Mut, Deinen Weg in der Therapie weiterzugehen und Dich mit Dir und Deinen Gefühlen auseinander zusetzen und ich wünsche Dir Hoffnung, dass Du daran glaubst, dass es irgendwann einmal besser wird!
Liebe Grüße,
Nora
Hallo,
ich finde deinen Beitrag sehr gut geschrieben und kenne diese Thematik leider selbst. Ich bin bei Menschen in meiner Umgebung auch schon oft auf Unverständnis gestoßen bezüglich dem Loslassen. Selbst Personen, die mir nahe stehen und meine Geschichte kennen, kommen irgendwann zu der Aussage…. „Aber das ist doch schon so lange her…“….
Was dabei wohl nicht verstanden zu werden scheint, ist der Aspekt, dass es nicht um die Zeitspanne geht. Sondern um die Erlebnisse. Und je nach dem, ist es völlig unerheblich, ob es einen Monat, ein Jahr oder ein Jahrzehnt her ist.
Ich habe mir schon des öfteren überlegt, wie ich nicht betroffenen Menschen verständlich machen könnte, was das für ein Gefühl ist. In deiner Beschreibung hast du es sehr gut getroffen.
Liebe Grüße
P.S. Falls du möchtest, schau mal bei meinem Blog vorbei. Freue mich über Austausch 🙂 https://darkwonderlandblog.wordpress.com/
Hallo Alice,
vielen Dank für Deine lieben Worte! Ja, ich finde, es ist unglaublich schwer manche für uns alltäglichen Gefühlszustände zu beschreiben und diese anderen zu erklären! Nur „müssen“ andere auch irgendwie bereit sein, dem ganzen zuzuhören, sonst funktionierts nich :/
Und klar, ich schaue gerne mal bei Dir vorbei,
bis bald,
Nora