Wenn mein Freund die Wohnung verlässt, dann zieht er sich Schuhe und Jacke an, schnappt sich die Schlüssel aus dem Regal, lässt die Tür ins Schloss fallen, schließt zweimal ab, fährt im Fahrstuhl runter ins Erdgeschoss und verlässt das Haus.
Bevor ich aus der Wohnung gehe, kontrolliere ich, ob alle Fenster und Zwischentüren zu und die Lichtschalter aus sind. Vor allem schaue ich nach, ob der Herd ausgeschalten ist, auch wenn ich ihn die letzten drei Tage gar nicht benutzt habe.
Das ganze wiederhole ich nochmal.
Und nochmal.
Nochmal.
Und nochmal.
Ich schließe die Wohnungstür ab, ruckle am Türgriff, ob sie wirklich zu ist und gehe zum Fahrstuhl. Während dieser zu meiner Etage hochfährt, gehe ich nochmal zur Wohnungstür und ruckle abermals daran. Manchmal lehne mich etwas schwungvoll dagegen, nur um sicherzugehen, dass sie wirklich nicht nur angelehnt ist und hoffe, dass ich nicht so stark bin, dass sie mir irgendwann mal aus dem Rahmen fällt. Und natürlich hoffe ich, dass meine Nachbarn nichts mitbekommen …
Zurück im Fahrstuhl fahre ich ins Erdgeschoss und gehe in Gedanken nochmal durch unsere Wohnung und überlege, ob wirklich alles zu und aus ist. Wenn es gut läuft, habe ich nach insgesamt 15 Minuten Wohnung und Haus verlassen.
Wenn es nicht so gut läuft, muss ich nochmal hochfahren, um nochmal alles zu kontrollieren. Wenn es richtig schlecht läuft, dann stehe ich schon am (glücklicherweise nur) drei Minuten entfernten S-Bahnhof und muss nochmal umkehren, weil mir mein Gefühl, etwas vergessen zu haben, keine Ruhe lässt.
Ich habe keinen Kontrollzwang. Ich habe Angst. Verlustangst.
Nun gut, ein bisschen hat sich aus der Verlustangst ein Kontrollzwang entwickelt. Aber immerhin habe ich keine diagnostizierte Zwangsstörung. Also habe ich auch keinen Kontrollzwang …
Wann es genau begann, weiß ich nicht mehr. Irgendwann 2014/2015. Vorher war ich zwar nicht „normal“, aber immerhin frei von diesem Kontrollbedürfnis.
Wenn ich die Wohnung verlassen muss, aber mein Partner zu Hause ist, dann kann auch ich die Wohnung innerhalb von wenigen Minuten verlassen. Ich weiß dann, sie sind nicht alleine – meine Haustiere.
Ja, dass ganze ist auf sie bezogen. Um sie habe ich Angst. Sie, unsere Frettchen, die Anfang 2014 bei uns eingezogen sind. Drei Monate, nachdem meine letzte Ratte Rosalie starb.
Ich habe Angst, dass die Wohnung infolge eines Kabelbrandes explodiert und sie qualvoll sterben. Dass ist Platz 1 der Horrorversionen in meinem Kopf.
Die Katastrophengedanken, was doch alles passieren könnte, sind ziemlich irrational. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwas in meiner Abwesenheit passiert ist ziemlich gering. Meine Therapeutin meinte auch zu mir, ich solle einen Wahrscheinlichkeits-Check machen, wenn mich diese Angst überfällt.
Und so stehen meine Katastrophengedanken meinen vernünftigen Argumenten im Kampf gegenüber.
Das ist irgendwie auch der Punkt – ich weiß, dass meine Gedanken und Angst total irrational sind, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, dass die Wohnung „einfach so“ explodiert – aber das ist meinem Angstgefühl egal, es drängt sich mir permanent auf.
Auch sage ich leise vor mir hin, dass ich Tür 1 kontrolliert habe, Tür 2 … Fenster 1 … Herd … – doch wenn die Tür zu ist, dann stelle ich in Frage, ob ich wirklich an alles gedacht und es richtig gemacht habe!
Das Kontrollieren aller Türen, Fenster und elektrischen Geräte vermittelt mir zwar im ersten Moment ein Gefühl von Sicherheit, doch 10 Sekunden später ist dieses weg. Was bleibt, ist die Sorge, die Angst.
Ummantelt von immenser Anspannung setze ich meinen Weg fort – Hitzewallungen, Herzrasen, Atemprobleme, Schwindelgefühle. Doch ich zwinge mich, weiterzugehen!
Ich muss weitergehen, um der Angst nicht die totale Überhand zu gewähren und um somit nicht in den Zustand von vor 5 Jahren zurückzufallen, wo ich gar nicht mehr die Wohnung verlassen habe. Wenn auch aus anderen Hintergründen (Panikattacken in der Öffentlichkeit), so doch hauptsächlich aus Angst.
Während der Fahrt versuche ich mich in mein Buch zu flüchten, um den Gedanken, was doch alles passieren könnte, zu entgehen. Doch die Angst summt eine Titelmelodie wie einen lästigen Ohrwurm, den man einfach nicht aus dem Kopf bekommt – egal, was man macht!
Meistens schaffe ich es bei meinem jeweiligen Termin, mich voll und ganz auf mein Gegenüber zu konzentrieren und die Sorgen zu verdrängen. Ich bin zwar unruhig, doch immerhin mit meinen Gedanken beim jeweiligen Thema.
Vielleicht hilft mir da auch ein Stück mein Stopp-Satz. Der beruhigt mich zwar ein bisschen und hilft mir, mich auf meinen Termin, mein Treffen zu konzentrieren, doch in sich ist er ziemlich ineffektiv:
„Wenn die Wohnung brennt bzw. meinen Tieren aus anderen Gründen etwas zustößt, kann ich immer noch hinterhergehen!“
Das ist der depressive Teil in dem ganzen Spiel – den möchte ich zwar überhaupt nicht, doch hilft mir dieser suizidale Gedanke, die Wohnung überhaupt zu verlassen!
Auch wenn meine Termine bzw. Treffen mit anderen Menschen oft sehr schön sind – ich bin froh, wenn ich nach Hause kann!
Ich bin auf dem Heimweg. Von weitem sehe ich das Haus in dem ich wohne. Die Straße wurde weder von der Polizei noch von der Feuerwehr abgesperrt. Es sieht so aus, wie ich es verlassen habe.
Mit dem Fahrstuhl fahre ich hoch zu meiner Wohnung und mit jeder weiteren erreichten Etage fällt der schwere Mantel der Anspannung von mir ab. Stück für Stück. Ich kann wieder freier atmen.
Meine Tiere liegen entspannt zusammen gekuschelt und schnarchen leise im Traum vor sich hin.
Alles ist gut, ich bin erleichtert.
Bis morgen – da habe ich einen Termin und muss erneut die Wohnung verlassen …
8 Kommentare zu „Kontrollzwang infolge Verlustangst“
Hallo Nora,
bei mir hat das ganz früher mal angefangen mit dem Auto kontrollieren. Das hat sich dann irgendwann gebessert.
Seitdem wir aber nicht mehr wie vorher mit meinen Schwiegergroßeltern zusammenwohnen, sondern 2 Straßen weiter gezogen sind und mit uns natürlich unser Hund und im Nachgang dann auch unsere beiden Stubentiger hat sich das nochmal drastisch verschlechtert.
Ich kontrolliere wie du, ALLE Türen, ALLE Fenster, die Elektrogeräte, den Herd (tausendfach) und natürlich Wohnungs- und Haustür. Weil mir die Angst, aber immer im Nacken saß doch etwas vergessen zu haben, habe ich vor einigen Monaten begonnen, alle Schritte zu fotografieren. Kein Witz, mein Handy ist voll mit den Kontrollbildern. Beim Herd fotografieren ist mittlerweile auch immer mein Fuß mit auf dem Bild, damit ich anhand des Schuhs erkenne das das Bild wirklich von heute ist… ich hab panische Angst davor das den Zwergen etwas passieren könnte. Aber seither haben sich viele andere Punkte ebenfalls verschlimmert. Ich muss nun auch beim Parken meines Autos ständig nachschauen, dass mein Auto wirklich abgeschlossen ist, bzw. das die Handbremse richtig angezogen wurde. Mittlerweile habe ich auch Angst vor dem Autofahren. Aus Angst ich könnte gedanklich ganz woanders gewesen sein und wegen mir ist ein Unfall passiert. Auch wenn ich ganz rational weiß, dass das nicht sein kann. Ich spiele nicht am Handy, ja ich wechsele ja während der Fahrt nicht mal den Radiosender. Ich halte mich immer genau an die Geschwindigkeit oder fahre sogar langsamer als erlaubt, vor allem im Dunkeln oder wenn ich mich nicht auskenne.
In den letzten Tagen sind die Zustände noch schlimmer geworden und ich habe die starke Befürchtung, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem ich das Haus gar nicht mehr verlasse…
Vielleicht hast du ja einen guten Tipp für mich. 🙂
Liebe Grüße
Viele meiner Freunde oder Familienmitglieder können diese Handlungen oder Ängste nicht verstehen. Und um nicht abstempelt zu werden spiele ich das auch bei anderen gerne herunter.
Aber die die Verständnis dafür haben drängen mich dazu, endlich einen Arzt aufzusuchen.
Aber meine Angst besteht darin, dass der Arzt es schafft, die Zwangshandlungen zu unterdrücken oder gar wirklich abzuschaffen und genau DANN passiert meinen Babys etwas… dieses Szenario macht mich wirklich sichtlich nervös.
Ich bin mittlerweile ganz schrecklich erschöpft und weiß leider nicht mehr, wie ich damit noch umgehen soll. Ich stehe extra früher auf um die „Kontrollzeit“ ausüben zu können. Diese ist in meinem Tagesablauf fest integriert.
Wie handhabst du das denn mit deiner Therapeutin? Oder deinem Therapeuten? Hat sich da schon etwas gebessert?
Ich drücke dir die Daumen, dass dem so ist.
Liebe Michelle,
vielen Dank für Deine sehr offenen Zeilen hier.
Das mit dem Fotografieren oder auch Liste führen hatte ich auch mal ne zeitlang probiert, aber mein innerer Kritiker hat immer irgendwas gefunden, wo ich mich geirrt haben könnte. Seit dem lasse ich das.
Bisher hatte ich akutere Themen, sodass meine Therapeutin und ich darüber noch nicht sehr intensiv bzw. zielgerichtet gesprochen haben. Bei mir ist es auch nicht so extrem wie bei Dir – zwar kontrolliere ich auch die Autotür, Handbremse oä., doch hauptsächlich gehts bei mir um die Wohnung und die Tiere.
Auch wenn Du das vermutlich nicht lesen magst: Ich möchte Dich auch ermutigen, Dir ärztliche/therapeutische Hilfe zu suchen!
Deine Angst, dass Du dadurch (also nach einer „Heilung“) nachsichtiger wirst und dann etwas passiert, kann ich zwar auch verstehen, jedoch glaube ich nicht daran.
Also, eine Therapie wirkt sich auf Dich ja nicht so aus, dass Du fahrlässiger wirst – Du wirst eher lernen, Dir selbst wieder zu vertrauen. Ideal wäre ja, dass Du z.B. nur einmal alles kontrollieren brauchst. Weißt, wie ich meine?
Wir haben beide die Angst um unsere Tiere – das ist eindeutig eine Verlustangst. Auch dafür gibt es Gründe und Ursachen. Und die kann man therapeutisch angehen. Dadurch wirst Du wie gesagt keineswegs unvorsichtiger. Vor allem ist man ja auch nicht von heute auf morgen „geheilt“ – alles ist ein Prozess, für welchen Du sehr viel Geduld brauchst.
In all dieser Zeit kannst Du lernen, wieder DIR zu vertrauen und die Zeit, die Du aktuell fürs Kontrollieren brauchst, kannst Du zum Kuscheln mit den Stubentigern nutzen.
Für mich übe ich übrigens manche Sachen ab und zu: Wenn ich z.B. zum Briefkasten gehe, dann schließe ich die Wohnungstür (4. Etage) nicht mehr ab und gehe auch nicht mehr zurück – ich weiß ja, dass ich in max. 5min wieder oben bin. Das Gleiche, wenn ich Müll wegbringe oder andere ganz kurze Wege habe. Es klappt nicht immer, ist jedoch mein Anfang. Vielleicht ist das ja auch etwas für Dich?
Wie Du Dich auch entscheidest – ich wünsche Dir ganz viel Kraft, Mut & Dir und Deinen Kleinen alles Liebe!
Beste Grüße,
Nora
erkenne mich in deinem Text komplett wieder- konntest du mittlerweile in irgend einer Art und Weise Abhilfe schaffen? lebe auch schon seit Jahren damit….mal besser, mal schlechter aber nie ohne den Zwang…… LG Jeanette
Hallo Hanet,
nein, leider hab ich da noch keine Lösung gefunden, auch eine Besserung ist nicht eingetreten. Noch zu oft dauert es Ewigkeiten, ehe ich mal endlich aus der Wohnung raus bin. Hab das ganze aber auch noch nicht ausreichend in der Therapie ansprechen können, da es immer aktuellere oder akutere Probleme da waren :/
Ich wünsche Dir, dass Du bald stressfreier Deine Wohnung verlassen kannst! Wenn Du etwas geholfen hast, was Dir hilft, würde ich mich über eine Rückmeldung freuen 😉
Liebe Grüße,
Nora
Wie würde es dir hinsichtlich dieser Situationen gehen, wenn du keine Haustiere hättest?
Falls du antworten möchtest 🙂
Liebe Grüße
Hi Alice,
hinsichtlich dessen würde es mir besser gehen bzw. ich könnte einfacher („normaler“) die Wohnung verlassen. Dem ist beispielsweise auch so, wenn wir sie bei unseren Frettchen-Bekannten abgegeben haben, weil wir z.B. übers WE weg. Wenn keiner in der Wohnung ist, dann hab ich überhaupt keine Panik, dass in meiner Abwesenheit irgendwas passieren könnte – und wenn, dann ist es nicht so schlimm (bis auf einige persönliche Sachen natürlich)! Die Angst, die Wohnung zu verlassen ist somit hauptsächlich auf die Tiere bezogen :/
Liebe Nora,
wie wunderbar du deine Empfindungen beschreibst!
Ich kann dir nur danken, dass du so viel Verständnis ermöglichst. da merke ich so richtig, wie schnell ich mit untauglichen Lösungsvorschlägen daherkommen will, a la Checkliste und „sich -die Erleichterung-einprägen“.
Nur zu leicht vergesse ich, dass mir manches total leichtfällt, aber als ich es noch nicht konnte – da schien es mir beinahe unmöglich.
Und viele Einsichten sind mir auch nur unter Schmerzen möglich geworden.
Nun, ich bin mir dankbar für meine Lernschritte, und dir, dass du mich daran erinnert hast.
Dir wünsche ich viel liebevolle Zuwendung und deinen Tieren ein pupsvergnügtes Leben. 🙂
Elke
„Den Tieren ein pupsvergnügtes Leben“ – ach, wie toll 😉 Danke!
Ja, ich denke, es geht nicht nur Dir so, dass man bei dem, was man gelernt hat, vergisst, wie schwer es am Anfang war! Manch einem helfen ja auch die Checklisten oder das Fotografieren von den geschlossenen Fenstern, womit man sich später unterwegs evtl. nochmal beruhigen kann – anderen, wie mir, hilft das leider nicht. Aber ich bleibe dran!
D.h., Du hattest auch mal solche Ängste bzw. Kontrollhandlungen? Und, sorry für meine direkten Fragen, was für Einsichten meinst Du, die Du schmerzhaft lernen musstest?