Am Dienstag, dem 10.09.2024, ist, wie jedes Jahr seit 2003, der Welttag zur Suizidprävention. Anlässlich dessen werden verschiedene Veranstaltungen, Vorträge und Workshops stattfinden. Seit Herbst 2022 bin ich Mitglied im Berliner Netzwerk zur Suizidprävention und durfte beim Fachtag zur Suizidprävention 2022 als Betroffene von einem Suizidversuch als auch Suizidgedanken einen Einblick in meine Erfahrungen geben. Ich habe mich entschieden, meinen Kurzvortrag hier schriftlich festzuhalten. Denn meine Gedanken richten sich nicht nur an Fachpersonal, im Sinne von Psychiater:innen, Therapeut:innen oder anderweitigen Menschen, die im beruflichen Kontext mit Menschen zu tun haben. Es richtet sich an alle, die mit Menschen zu tun haben. Also an alle von uns. Denn Suizid und Prävention betrifft uns alle. Deshalb erfährst Du hier auch 10 Fakten, die uns alle betreffen und wie wir Erste Hilfe bei lebensmüden Gedanken bzw. Gedanken an Suizid leisten können.
Suizid und Suizidprävention – Ein Einblick in meine persönlichen Erfahrungen
Drei Menschen sind durch Suizid gestorben, seitdem wir hier zusammen sitzen und darüber sprechen, wie wir Suizide verhindern können. Fünf Menschen von 24 die insgesamt am heutigen Tage sterben werden, etwa zwei Kinder bzw. Jugendliche werden unter ihnen sein. Dies sage ich auf Basis von statistischen Werten. Nun gut, Statistik und Zahlen, das ist oft emotional gar nicht so greifbar, erscheint vielleicht fremd und fern.
Sommer 1997: Ich war 12 Jahre alt, als ich xy-tabletten* klaute und eine Handvoll davon am Abend nach der Musikschulstunde einnahm. Es war ein recht heißer Sommertag. Ich weiß noch, wie ich nach Einnahme der Tabletten mit dem Fahrrad nach Hause fuhr – ein Weg von vllt 10 Minuten. Wie ich daheim ankam bzw. was dann passierte, weiß ich nur noch aus Erzählungen einer damaligen erwachsenen Bezugsperson**.
Ich stand ziemlich benebelt vor der Haustür, wir gingen in die Stube und sie merkte, dass irgendwas war und fragte, ob mir schlecht sei. Ich verneinte wohl, übergab mich aber im nächsten Moment. Aufgewacht bin ich im Krankenhaus, angeschlossen an einem EKG-Gerät. Die damaligen Ärzt:innen fanden nichts und wie ich Jahre später erfuhr, wurde auch ein Drogentest gemacht – aber auch der fiel negativ aus. Also erklärte man meinen damaligen erwachsenen Bezugspersonen, dass infolge eines schnellen Wachstums, der Hitze und der wenigen Nahrung, die ich an dem Tag zu mir genommen hatte, es wohl einfach nur ein Kreislaufkollaps war. Und damit war die Sache erledigt.
Einzig meine sechs Jahre ältere Schwester fragte mich damals, ob ich irgendetwas genommen hatte. Doch ich verneinte das, zu sehr hatte ich Angst, dass ich in ein Heim oder eine Psychiatrie kommen würde.
Warum? Warum versucht ein Kind sich das Leben zu nehmen?
Vielleicht hast Du gerade eine zerrüttete Familie und katastrophale Zustände vor Augen, wenn ich das so erzähle. Das würde ich verneinen. Wir waren nach außen hin eine total normale fünf-köpfige Familie. Wir lebten in einem Haus mit Garten, waren durchschnittlich finanziell aufgestellt und fuhren jedes Jahr in den Urlaub. Meine Eltern hatten beide einen Beruf, wir Kinder gingen alle zur Musikschule und Hunger mussten wir auch nicht leiden. Auch bin ich kein Opfer sexualisierter Gewalt. Es war alles normal. Ebenso mein weiteres soziales Umfeld.
Dennoch kenne ich seit meiner Grundschulzeit selbstverletzendes bzw. selbstschädigendem Verhalten und lebensmüde Gedanken. Ich weinte mich nachts in den Schlaf mit dem Wunsch, irgendeine schlimme Krankheit zu haben, damit sich jemand um mich kümmert – ohne zu wissen, dass ich psychisch schon längst erkrankt war.
Erst vor ein paar Jahren, so mit Anfang 30, habe ich verstanden, in was für dysfunktionalen Verhältnissen, geprägt von Manipulation und emotionalem Missbrauch ich aufgewachsen bin.
Springen wir mal ins Heute.
Ich bin inzwischen 37 Jahre alt und arbeite aufgrund meiner persönlichen Krisen- und vor allem Genesungserfahrung und div. fachlichen Qualifikationen mit Betroffenen und Angehörigen zusammen.
Während in meinem Hauptjob Erwachsene meine Zielgruppe sind, erreiche ich via SocialMedia auch Jugendliche. Und bei beiden gibt es eine häufig vorkommende wesentliche Übereinstimmung: Über Suizidgedanken rede ich weder mit meinem Psychiater oder Psychiaterin bzw. Therapeut:in, noch mit einem Krisendienst – weil sonst werde ich ja sofort eingewiesen.
Dies war auch jahrelang meine Angst. Nun, ich hatte zwar keinen Suizidversuch mehr, war dennoch mit suizidalen Gedanken konfrontiert. Für die ich keinen Raum fand. Es wurden in der Klinik oder ambulanten Therapie Non-Suizid-Verträge unterschrieben und ich war überzeugt, sobald ich von meinen Suizidgedanken erzähle, werde ich eingewiesen. So bekam ich das häufig bei anderen mit.
Etwa sechs Jahre lang war ich psychisch stabil, was meine Depression, Angststörung und Panikattacken betraf, bis ich im Herbst 2021 einen Zusammenbruch hatte. Mit Suizidgedanken. Jetzt nicht so, dass ich vollends die Entscheidung getroffen hatte, sondern ich befand mich eher so im Erwägungsstadium. So nach dem Motto „Was wäre, wenn …“
Es war mit eine der kürzesten Krisen die ich hatte, ohne voll- oder teilstationären Aufenthalt – obwohl ich Suizidgedanken hatte.
Suizidale Krise – was mir wirklich half
Ich bin heilfroh, bei einer Therapeutin und einem Psychiater in Behandlung zu sein, wo ich inzwischen so viel Vertrauen habe, dass ich Suizidgedanken ansprechen kann. Nun gut, es kommt mir auch zu Hilfe, dass ich fachlich inzwischen mehr weiß, auch was Möglichkeiten und Grenzen von Zwangseinweisungen betrifft.
Doch das, was mir half, war, dass vor allem meine Therapeutin da ein offenes Ohr für mich hatte.
Mir half der Raum, um über die Suizidgedanken mit jemandem zu sprechen, der das mit mir halten und aushalten konnte. Jemand, der mir zugestand, diese Gedanken haben zu dürfen, jemand, der mich weder mitleidig noch verurteilend ansah. Jemand, der neutral und zugleich verständnisvoll im Sinne von „Du darfst so sein, wie Du gerade bist“ agierte. Jemand, der mit mir erarbeitet, wie es dazu kam und was ich nun brauche.
Wir brauchen Menschen, die schon in einem frühen Stadium zuhören
Bei Suizidprävention denken wir oftmals an jene Menschen, die akut suizidal sind, vielleicht sämtliche Vorbereitungen getroffen haben und die – verzeih mir mir die laxe Formulierung – die im wahrsten Sinne des Wortes schon auf dem Sprung sind.
Wir brauchen aber Menschen – Fachleute – die zuhören, ehe sie Rezepte oder Einweisungen ausstellen. Wir brauchen Fachleute, die Suizidgedanken auch in einem frühen Stadium einen Raum geben, die Gedanken ernst nehmen, ohne moralisch zu werden. Und mit Fachleute meine ich nicht nur Therapeut:innen und Psychiater:innen, sondern eben jene Menschen, die eng mit Menschen in sozialen Einrichtungen zusammen arbeiten.
Das ist der Beginn von Suizidprävention – an der Wurzel des Geschehens anfangen und mit den betroffenen Menschen reden, statt über sie zu entscheiden.
Ich bin überzeugt davon, dass, Suizidprävention im vermeintlich „Kleinen“ beginnt und wir alle dazu beitragen können und müssen, um das Thema zu enttabuisieren.
Vor allem, um Betroffene zu ermutigen, schon früh darüber zu sprechen. Um in all der Hoffnungslosigkeit einen Funken Hoffnung zu säen, dass Suizidalität nicht per se das Ende des Lebens bedeuten.
Das Foto wurde mir vom Aktionsbündnis für seelische Gesundheit zur Verfügung gestellt.
Wenn Du in einer (suizidalen) Krise bist, rede darüber. Ich weiß, wie unglaublich schwer das ist – es ist jedoch auch sehr befreiend und Dir kann es helfen. Wenn Du jetzt überzeugt den Kopf schüttelst und denkst, dass Dir eh niemand mehr helfen kann, dann überlege mal, ob das wirklich Du bist, der/die das denkt oder ob es möglicherweise die Krise ist, die da aus Dir spricht. Auf folgendem Link findest Du Stellen, an die Du Dich wenden kannst (persönlich, telefonisch, online): Anlaufstellen in Krisen
*Aufgrund von Persönlichkeitsrechten habe ich beteiligte Personen umschrieben.
**Ich habe mich bewusst dafür entschieden, die Art der Tabletten nicht zu nennen und werde diese Frage auch nicht via Kommentar oder Privatnachricht beantworten.
10 Fakten über Suizidalität, die wir alle kennen sollten
1. Suizidalität ist keine Schwäche oder Schande, sondern ein Zeichen von psychischem Leid. Menschen, die an Suizidgedanken leiden, brauchen Verständnis, Mitgefühl und professionelle Unterstützung.
2. Suizidalität kann jeden treffen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder sozialem Status. Es gibt jedoch bestimmte Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, wie z.B. psychische Erkrankungen, soziale Isolation oder auch besondere Risikogruppen, wie beispielsweise ältere Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund oder aus der LGBTQ-Szene.
3. Suizidalität ist nicht immer offensichtlich. Viele Menschen verstecken ihre Gefühle aus Scham, Angst oder Hoffnungslosigkeit. Neben verbalen Andeutungen gibt es oftmals auch non-verbale Andeutungen, die sich in Verhaltensweisen wie z.B. Rückzug und Interessenverlust zeigen.
4. Suizidalität ist nicht statisch. Die Intensität und Häufigkeit von Suizidgedanken kann sich je nach Situation und Stimmung ändern. Manche Menschen haben nur kurzfristige oder impulsive Suizidgedanken, andere haben langfristige oder chronische Suizidgedanken.
5. Suizidalität ist nicht ansteckend. Das Gespräch über Suizid erhöht nicht das Risiko, sondern kann im Gegenteil eine Erleichterung und eine Chance zur Hilfe sein. Es ist wichtig, offen und ehrlich zu kommunizieren und zuzuhören, ohne zu urteilen oder zu kritisieren.
6. Suizidalität ist nicht das Ende. Menschen, die einen Suizidversuch überleben, haben oft gemischte Gefühle: Erleichterung, Schuld, Scham oder Angst. Sie brauchen weiterhin Unterstützung und Begleitung, um sich von ihren Verletzungen zu erholen und ihre Probleme anzugehen. Zugleich bedeutet eine suizidale Phase nicht das Ende, da es immer Hoffnung auf Besserung gibt.
7. Ein Suizid erfolgt seltens isoliert. Menschen, die von einem Suizid eines anderen betroffen sind, ob als Angehörige, Freunde oder Bekannte, leiden oft unter Trauer, Wut, Schuld oder Verwirrung. Sie brauchen ebenfalls Unterstützung und Verständnis, um ihren Verlust zu verarbeiten und weiterzuleben.
8. Auch in suizidalen Krisen gibt es Hilfe. Es gibt viele Hilfsangebote und Ressourcen für Menschen in suizidalen Krisen oder für Menschen, die jemanden in einer solchen Situation kennen. Es ist wichtig, diese Angebote zu nutzen und sich nicht zu scheuen, Hilfe zu suchen oder anzubieten. Eine Übersicht von möglichen Krisenanlaufstellen, online und offline habe ich hier zusammengestellt: Krisenanlaufstellen
9. Suizidalität ist nicht das letzte Wort. Jeder Mensch hat einen Wert und eine Würde, die unabhängig von seinen Umständen sind. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und auf Hoffnung. Jeder Mensch kann einen Beitrag leisten und einen Unterschied machen.
10. Suizidprävention ist möglich. Die meisten Menschen, die an Suizidgedanken leiden, wollen nicht wirklich sterben, sondern ihrem Leid entkommen. Es gibt immer Alternativen und Möglichkeiten zur Veränderung. Suizidprävention ist möglich und wirksam.
Suizidalität ist ein ernstes und komplexes Thema, das uns alle angeht. Gewiss kann das gesamte Thema hier nicht in einem kleinen Blog-Beitrag abgehandelt werden. Aber es ist wichtig, darüber zu sprechen und vor allem zu wissen, dass wir auch scheinbar sehr „entschlossenen“ Menschen helfen können. Denn Reden rettet Leben.
Lass uns gemeinsam daran arbeiten, das Schweigen zu brechen und das Leben zu schützen.
Ja, gut, aber wie denn?
Was mache ich denn, wenn mir gegenüber jemand lebensmüde Gedanken äußert?
Diese Situation hatte ich unlängst selbst in einem Beratungskontext. Ich arbeite als Peer-Beraterin (Betroffenenberatung) mit Menschen mit Depression und/oder Angststörung zusammen. Und wir kamen in dem Gespräch auf Suizidgedanken zu sprechen.
Als erstes ist es ganz wichtig, nachzufragen. Es ist ein Mythos, davon auszugehen, dass ich jemanden noch mehr auf die Idee bringe oder vielleicht sogar ermutige, wenn ich nachfrage. Oftmals ist das Gegenteil der Fall: Es kann enorm erleichtern wirken, offen über „solche“ Gedanken reden zu dürfen, ohne verurteilt zu werden.
Als nächstes gilt es einzuschätzen, ob die Gedanken im Rahmen sind oder ob sofort notärztliche Hilfe benötigt wird. Lebensmüde Gedanken sind nahezu immer belastend für die Betroffenen – aber nicht immer steckt eine akute Suizidalität dahinter. Das bekommen wir durch konkretes Nachfragen heraus. Je konkreter die Vorstellung des geplanten Todes, desto akuter ist die Situation.
In meinem Fall von neulich war es im Rahmen, jedoch konnte sich die ratsuchende Person nicht so wirklich von den Gedanken distanzieren. Es bestanden aufdrängende suizidale Gedanken, die immer wieder während des Tages auftraten, was schon für eine akutere Situation spricht. In dem Fall war es wichtig, einen Weg zu finden, um gemeinsam mit der betreffenden Person eine Entscheidung zu treffen – und nicht über ihren Kopf hinweg. Natürlich dachte ich an einen Klinikaufenthalt, zugleich war ich mir unsicher und fand es eventuell zu extrem.
Wenn wir überreagieren und sofort Polizei oder notärztliche Hilfe rufen, dann kann das dazu führen, dass sich die betroffene Person beim nächsten Mal, wenn es gar nicht so akut ist, gar nicht erst öffnet, weil sie denkt „Ach, ich werde ja sowieso direkt eingewiesen.“ – Dabei ist das vielleicht gar nicht notwendig, jemanden einzuweisen.
Und das ist der springende Punkt: Nicht jede lebensmüde Gedanken sind auch akut suizidale Gedanken. In dem Fall spreche ich auch aus eigenen Erfahrungen: Ich fand es total hilfreich, dass ich mit meiner Therapeutin oder auch meinem Psychiater über lebensmüde Gedanken sprechen konnte, ohne die Sorge einer sofortigen Einweisung haben zu müssen.
In meinem Fall von letztens haben wir es so gelöst, dass wir den Krisendienst kontaktiert haben. Diesen gibt es in jedem Berliner Stadtteil, dort arbeiten Fachkräfte und diese zu kontaktieren, war ein guter Mittelweg, um auch die Verantwortung zu teilen. Also, nicht nur, dass ich die Verantwortung alleine hatte, sondern auch die ratsuchende Person nicht allein damit ist. Mit dem Krisendienst hatten wir eine dritte Person mit dabei, die fachlich anders geschult ist als ich und mit der die ratsuchende Person nochmal anders über ihre Situation und die Gedanken sprechen konnte. Gemeinsam wurde da entschieden, dass genügend Ressourcen vorhanden sind und keine sofortige Klinikeinweisung notwendig ist.
Das, was hier jetzt in den wenigen Zeilen beschrieben ist, resultiert aus meinen mittlerweile jahrelangen privaten und beruflichen Erfahrungen.
Ich finde es so wichtig, dass wir auch als Laien wissen, wie wir auf solche Situationen reagieren können und wie wir anderen Erste Hilfe leisten können – nichts anderes habe ich gemacht. Und wenn Du Dich da weiterbilden möchtest, um sicherer im Umgang mit Betroffenen zu sein, dann schau doch gerne mal bei meinem Seminar zur Suizidprävention vorbei, welches regelmäßig online via Zoom stattfindet:
Sei dabei, leben zu retten!
In diesem drei-stündigen Seminar via Zoom erfährst Du:
Welche Rolle spielt Suizidalität in unserer Gesellschaf?
Welche Irrtümer gibt es bezüglich Suizidalität?
Wie kannst Du im Notfall handeln?
Wie kannst Du Dich abgrenzen?
Das bekommst Du:
exklusiven Zugang zum Seminar (online)
ausführliches Handout, so dass Du nichts mitschreiben brauchst
Teilnahmebescheinigung per Email
Pro Seminar gibt es eine Begrenzung der Teilnehmenden, sodass wir max. 15 Personen sind.