Mai 2015: „Und, wie geht’s Ihnen?“ – Mein Psychiater sitzt vor mir und schaut mich fragend an. Ich blicke ihn ebenfalls fragend an – „Hapühmrpfm!“ meine ich schulterzuckend.
Ich stecke in einer Depression und weiß nicht, wie es mir geht.
Es ist für ihn als auch für mich nichts neues, dass ich auf seine Frage nach meinem Befinden keine wirkliche Antwort habe. Und das ist okay so – für ihn als auch für mich. Zumindest für den Moment.
Es ist, wie wenn eine Glasscheibe zwischen mir und meinem Gefühl steht. Ich fühle, dass ich etwas fühle, ich weiß nur nicht was. Auf dem Heimweg versuche ich via Auswahlverfahren mein Gefühl zu identifizieren:
Ich bin heute weder traurig, wütend, glücklich, entspannt, melancholisch, ängstlich, lethargisch, nervös, bedrückt noch genervt. Diese Gefühlsliste ließe sich noch lange fortsetzen wie mir Google zu Hause zeigt. Doch egal, welches Stimmungswort mich da auch anguckt, es passt keines zu meinem „Zustand“. Es gleicht auch nicht der Alles-ist-mir-egal-Stimmung.
Wenn ich nicht weiß, wie es mir geht – dann ist das weder gut noch schlecht. Mir selbst geht es gerade weder gut noch schlecht. Ich lebe nicht in meinem sonstigen Gefühlschaos. Emotionen und Grübeleien überfluten mich nicht und leer fühle ich mich auch nicht. Irgendetwas ist da in mir, ich kann es nur nicht benennen.
Starke Gefühle wie Wut und Trauer, die kenne ich. Da weiß ich, wie sie sich anfühlen und was für Gedanken sie mit sich bringen. Doch alles dazwischen, was für andere vielleicht „normal“ ist, dass ist mir fremd. Damit kann ich nichts anfangen.
Dass, was ich fühle, sitzt für mich hinter einer dicken Milchglasscheibe und gleicht einer Fremdsprache – ich kann sie nicht deuten … und ja, jetzt fühle ich mich mir selbst gegenüber fremd, da ich einfach nicht weiß, was ich da fühle …
Meine bisherige Erfahrung zeigt mir, dass es jetzt aber keinen Sinn macht, weiter darüber zu grübeln. Wie oft habe ich angefangen, in mir zu suchen, zu kramen und nachzubohren, nur um herauszubekommen, was ich gerade fühle … meistens habe ich dann nach Stunden wirklich was gefühlt: Ärger und Wut auf mich selbst, weil ich kein stimmiges Gefühl in mir gefunden habe. – Doof.
Aber Du musst doch …
Da sind Menschen in meinem Umfeld, welche mit meinem glänzenden Nichtwissen über meine Gefühlslage nicht umgehen können. Dass sie das ganze nicht verstehen, verübele ich ihnen nicht. Ich meine, ich verstehe es ja selbst nicht. Doch dieses:
„Aber Du musst doch wissen, wie Du Dich fühlst! Du musst doch wissen, was Du fühlst! Ja Mensch, Du musst doch wissen, wie es Dir geht!?!“
HERZKLOPFEN … In dem Moment fühle ich mich vor allem eines – unter Druck gesetzt.
Es ist, als wenn mein „Anderssein“ nun nochmal stärker zum Ausdruck kommt: „Ich, die mit der Depression. Ich, die mit der Angststörung …“ – nur, weil ich nicht ganz „normal“ wie alle andere die Frage beantworten kann. Zumindest nicht ehrlich. Oftmals ist ja so eine nichts-aussagende Antwort wie „geht so“ oder „läuft“ ausreichend und für viele Menschen zufriedenstellend. Dann ist das auch für mich okay, zumal nicht jeder Mensch wissen muss, wie es in mir aussieht.
Freund:innen oder auch Familienmitglieder geben sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Sie wollen mehr wissen. Sie wollen das von mir wissen, was ich selbst nicht weiß.
Alternative Fragen helfen
Einige aus meinem Umfeld haben zwischenzeitlich akzeptiert, dass ich manchmal nicht weiß, wie es mir geht. Sie bohren dann nicht weiter in mir nach. Mir nahestehende Menschen äußern ihr Interesse nach meinem Gemütszustand mit konkreten Fragen. Z. B. was ich derzeit in meiner ehrenamtlichen Arbeit für Aufgaben habe, was ich zur Zeit lese oder wie ich meine letzten Tage gestaltet habe. Sehr gute Freund:innen dürfen auch fragen, wie mein letztes Therapie-Gespräch war und um was es ging. Solche expliziten Fragen sind für mich hilfreich, da sie auf eine konkrete Sache gerichtet sind. Und somit sind sie offen und ehrlich – einfach leichter – für mich zu beantworten.
Mittlerweile kann ich selbst den Zustand auch einigermaßen akzeptieren. Das gute an ihm ist, dass er mich nicht in meinem Alltag behindert. Ich bin in meinem Denken „normal“ – mein Kopf ist nicht leer, aber auch nicht mit quälenden Grübeleien beschäftigt. Somit habe ich ihn frei für meine Arbeit, kann mich auch um den Haushalt kümmern und das, was so im Alltag halt anfällt.
Und damit kann ich die Frage nach meinem Befinden für mich selbst auch gerne einfach mal links liegen lassen.
2024: Die Depression liegt hinter mir – wie geht´s mir mit der Wie-geht´s-Dir-Frage?
Seit Herbst 2021 hatte ich keine depressive Krise mehr. Heißt das nun, dass ich stets und ständig weiß, wie es mir geht und was in mir los ist? – Nein. Also, so halb.
Inzwischen habe ich einen viel besseren Zugang zu mir und meinen Gefühlen. Ich weiß, was mich belastet, kann mich artikulieren und vor allem auch viel schneller Hilfe in Anspruch nehmen. Zugleich gibt es manchmal Tage, wo ich noch immer in so einem Auto-Pilot-Modus bin. Ich spüre, dass da irgendwo ein Gefühl in mir feststeckt und nicht so ganz greifbar für mich ist.
Diese Form der vielleicht leichten Form der Dissoziation (Gefühlsabspaltung) ist noch da, aber das ist okay. Ich kann das inzwischen mal mehr mal weniger gut akzeptieren. In den vergangenen Monaten war es eher so, dass ich spürte, dass ich traurig war, aber ich konnte es nicht rauslassen. Über ein halbes Jahr konnte ich nicht weinen, obwohl ich das Bedürfnis dazu hatte.
Neben der Akzeptanz des Umstandes und des (Nicht-)Gefühls hilft mir hierbei das darüber reden – mit einer guten Freundin oder auch mit meiner Therapeutin. Nun, die Therapie endet demnächst, weshalb es mir wichtig war/ist, Alternativen zu finden. Viele davon haben wir in den vergangenen Jahren erarbeitet – Innere-Kind-Arbeit beispielsweise. Oftmals war bei mir da etwas im Argen, wenn ich als Erwachsene keinen Zugang zu mir fand.
Wenn ich mal doch nicht weiß, was da für ein Gefühl in mir grummelt, nutze ich gerne auch Gefühlskreise, wo die Emotionen und Gefühle benannt werden und man sich damit ein bisschen vortasten kann.
Das sind so Tools, die ich „akut“ nutze. Aber das wesentliche war in den vergangenen Jahren mit mir selbst bewusster umzugehen. Öfter mal zwischendurch bei mir „einzuchecken“, um nachzuspüren, was da in mir gerade los ist. Es war wie ein neues Kennenlernen, also, auf unterschiedlichen Ebenen eben. Ein bewusstes Reinspüren, wie fühlt sich das im Körper an, wenn ich glücklich, traurig, wütend (…) bin.
Diese Form des achtsamen Umgangs unterstützt mich auch gerade präventiv in stressigen oder gar kriseligen Zeiten. Es ist wie eine Art Alarmsignal, um rechtzeitig(er) zu intervenieren, wenn ich gerade über meine Grenzen gehe.
Grenzen – das führt mich auch zur Abgrenzung. In meinem Job als Peer-Beraterin, wo ich viel mit anderen Erkrankten oder Angehörigen zu tun habe, ist es elementar wichtig, dass ich mich emotional abgrenzen kann. Früher erschien mir das ja wie eine Raketenwissenschaft, aber gerade mit dem bewussteren Umgang mit mir selbst, spürte ich immer rechtzeitiger, wenn eine Grenze überschritten wurde. Wenn wir wahrnehmen und verstehen, was auf der Ebene von Gedanken, Verhalten und Körper da bei uns vor sich geht, können wir rechtzeitiger intervenieren.
Und das betrifft uns in so vielen emotionalen Bereichen. In der Abgrenzung, aber auch in der Selbsthilfe bei bevorstehenden Krisen.
Wenn wir gelernt haben, unsere eigenen Alarmsignale rechtzeitig(er) wahrzunehmen und wir dadurch rechtzeitig(er) einschreiten, können wir durchaus eine erneute depressive Krise abschwächen, vielleicht sogar verhindern.
Vielleicht. Das möchte ich hier noch betonen. Selbst bei aller Therapie, Selbstfürsorge, Achtsamkeit und bewusstem Umgang mit sich selbst, können wir nicht zu 100 % ausschließen oder verhindern, nicht doch noch mal eine depressive Krise zu erleben. Es ist und bleibt eine Erkrankung mit unterschiedlichen Auslösern und Ursachen.
Dies zu akzeptieren ist für viele Betroffene und Angehörige mit das schwerste. Und doch irgendwie das elementarste.
Was ist Deine Erfahrung mit dem Fragen nach Deinem Befinden? Was hat Dir dabei geholfen? Gibt es auch so alternative Fragen, die Du leichter und lieber beantworten kannst, die dennoch in dieselbe Richtung gehen?
Depression … Warum ich? Was nun?
„Depression – und jetzt? Wegweiser einer Erfahrungexpertin“, veröffentlicht durch den Starks-Sture-Verlag