Wenn Eltern sterben, ohne tot zu sein

Eltern

Ein Gastbeitrag von L. – vielen Dank für Deine Offenheit 💚

Wenn Eltern sterben, ohne tot zu sein


„Alle Eltern lieben ihre Kinder.“ 

Wenn ich diesen Satz höre, zieht sich etwas in mir schmerzlich zusammen und ich weiß, dass dieser Satz nicht stimmt. Ich weiß, dass es Eltern gibt, denen fehlt die Fähigkeit zu lieben oder sie haben nicht die Ressourcen, um es zu tun. Oder sie lieben ihre Kinder zwar, können es aber nicht zeigen und es fühlt sich für die Kinder somit genauso an, als wären sie nicht geliebt.

Und dann denke ich weiter an meine Kindheit. Ich denke daran, was uns in den Kopf kommt, wenn wir von Missbrauch sprechen. Denken wir dabei automatisch daran, wenn Kinder geschlagen werden oder sie sexuell missbraucht werden? Oder denken wir auch an den Missbrauch, der irgendwie stiller und unsichtbarer passiert. Der Missbrauch, der emotional stattfindet?

Und dann bin ich bei meinen ersten 20 Lebensjahren angelangt. Geschlagen oder sexuell missbraucht wurde ich nicht. Was ich 20 Jahre ertragen musste, war emotionaler Missbrauch. Und dieser ist noch heute so unglaublich schwer in Worte zu fassen.

Es ist so schwer zu erklären, woher diese Atmosphäre voller Angst kam, die ich empfand. Wieso ich in meinem Zimmer saß und die Luft anhielt, um unsichtbar zu werden, wenn ich hörte, dass meine Mama die Treppe hochkam.

Eine persönliche Geschichte


Es sind diese Momente, in denen ich von der Schule kam. Wenn ich die Tür aufschließe, was wird mich dann erwarten? Werde ich mit einem Lächeln begrüßt? Oder bekomme ich einen bösen Blick und ein wütendes „Hallo“ an den Kopf geworfen? Oder werde ich vielleicht sogar wieder komplett ignoriert und Du behandelst mich wie Luft?

Wenn ich etwas falsch gemacht habe und Du wirklich wieder böse mit mir bist, werde ich dieses Mal erfahren was ich falsch gemacht habe? Oder werde ich wieder über Tage hinweg grübeln und es am Ende doch nicht erfahren? Wirst Du dieses Mal stolz sein oder Dich zumindest kurz freuen, wenn ich Dir die 1 in der Klassenarbeit zeige? Oder wirst Du sie wieder keines Blickes würdigen? Wirst Du dieses eine Mal stolz auf mich sein, wenn ich meinen Realschulabschluss mit Auszeichnung mache und mein Abitur mit einem 2er Schnitt beende? Ja? Zumindest dieses eine Mal kurz – ich danke Dir. Aber beim Abschlussball wirst Du nicht dabei sein? Ja ok, ich verstehe.

Wirst Du mir wieder all meine Freundschaften kaputt reden, von allen Menschen behaupten, sie hintergehen mich und böse sein, wenn ich mich mit jemandem treffen möchte? Wirst Du mich unterstützen, wenn ich Dir sage, dass ich studieren gehen möchte? Oder wirst Du mir wieder sagen, dass ich das nicht schaffen werde und auch alle anderen Berufe, in denen ich mir eine Ausbildung vorstellen kann, versuchen schlecht zu reden? Wirst Du anerkennen, dass ich seit meinem 18. Lebensjahr mein eigenes Geld verdiene, weil ich neben der Schule einen Minijob habe? Oder wirst Du mir wieder vorwerfen, ich würde zu Hause nichts machen und meine Familie nur ausnutzen?

Siehst Du irgendwann, dass ich eine gute Tochter bin und mich so sehr bemühe alles richtig zu machen? Dass ich nicht mal feiern gehe, so wie andere? Nicht mal Alkohol trinke, so wie andere? Niemals ohne eure Erlaubnis etwas tue, so wie es andere machen?

Wirst Du meine Tränen, meine Verzweiflung, meine Einsamkeit, meine Hoffnungslosigkeit sehen? Vielleicht ja dann, wenn ich gar nicht mehr existiere?

Vielleicht merkst Du dann ja, dass Du mich doch lieb gehabt hast. Die Tabletten unten im Schrank sind nicht weggesperrt.

Und Du Papa?


Und Du Papa? Wo bist Du? Ich weiß, Deine Ressourcen reichen nicht aus, aber hast Du nicht immer wieder geschworen, es anders zu machen als Deine Eltern? Hast Du mir nicht immer wieder versprochen, Du würdest Deine eigenen Kinder niemals rauswerfen?

Wie kann es dann sein, dass Du es warst, der mir eines morgens diese SMS schrieb in der stand, ihr wollt Euch nicht mehr ausnutzen lassen und ich solle meine Sachen packen? Wie konntest Du dieses eine, so immens wertvolle Versprechen mir gegenüber brechen und mich so im Stich lassen? Wusstest Du nicht, dass Du mir damit mein Vertrauen zu anderen (vor allem männlichen) Menschen nehmen würdest und ich deshalb auch heute noch nur ein müdes Lächeln dafür übrig habe, wenn mir jemand sagt „Ich gehe nicht weg!“?

Wie konntest Du zulassen, dass mir das gleiche passiert wie Dir, wo Du doch wissen musst, was es mit einem anrichten kann?

Nein, nicht alle Kinder erfahren Liebe, Unterstützung, Sicherheit, Verlässlichkeit und Geborgenheit von ihren Eltern und manchmal ist der einzige Ausweg, um sich selbst zu retten, ein Abschied für immer.

Was hilft?


Ich hatte keinen Abschied, denn nach dieser SMS, in der ich rausgeworfen wurde, gab es nur noch ein einziges „Treffen“ mit meiner Mama und meinem Bruder, bei welchem ich Kleidung und ein paar persönliche Dinge wie mein Tagebuch mit zur Familie meines Freundes nahm, die mich aufnahmen. Meinen Papa habe ich nie wieder gesehen, nachdem ich zwei Tage zuvor nichts ahnend noch als Tochter mein Elternhaus verließ und zu einem Wochenende bei meinem damaligen Freund gefahren war.

Verabschiedet habe ich mich erst letztes Jahr (2021) mit einem Brief, der zu einem kleinen Boot gefaltet und zu Wasser gelassen wurde. Und auch heute noch verabschiede ich mich immer wieder ein Stückchen mehr.

Am Ende war die einzige wirklich nachhaltige Methode all das zu verarbeiten, eine Psychotherapie. Und selbst diese vier Jahre reichten nicht aus, um allen Schmerz und alle Erfahrungen in Gänze friedlich betrachten zu können.

Vielleicht geht das auch gar nicht. Vielleicht wird er für immer ein Stück weit bleiben, der Schmerz, nur in milderer Form. Aber letztlich konnte kein privates Gespräch, kein Mensch im Außen, kein noch so gut geschriebenes Selbsthilfebuch das erreichen, was meine Therapie erreichen konnte.

Nämlich zumindest einen ganzen Berg an Staub und Müll aus dem Kellerraum zu schaffen, in dem all das verstaut war, was ich 20 Jahre meines Lebens dort angesammelt hatte.

~ L.

Und nun?

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Mitgliedschaften & Kooperationen

Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention ist seit 1972 die übergreifende Fachgesellschaft für Einrichtungen und Personen, die sich in Forschung, Lehre oder Praxis mit Suizidprävention befassen.

Die Deutsche Depressionsliga ist eine bundesweit aktive Patient:innen-vertretung. Sie ist eine reine Betroffenenorganisation, deren Mitglieder entweder selbst erkrankt sind oder aber sie sind Angehörige von Betroffenen.

Die Gründer:innen von Freunde fürs Leben sowie viele der (ehrenamtlich) Beteiligten haben selbst geliebte Menschen durch Suizid verloren. Ich selbst kenne Suizidgedanken von mir früher als auch Menschen, die dadurch verstorben sind.

Die Seminare von Seelische Erste Hilfe Leisten befähigen Menschen dazu, selbstbewusster, informierter und empathischer mit seelisch belasteten Personen umzugehen. Unser Ziel ist, dass analog zu körperlichen Erste-Hilfe-Kursen auch seelische Erste-Hilfe-Kurse fester Bestandteil einer Aus- oder Weiterbildung sind.

Gemeinsam gegen Depression ist eine Aufklärungskampagne von Janssen. Unterstützer:innen der Initiative und die Teilnehmenden des Aufrufs „Zeig Gesicht“ berichten über ihre ganz persönlichen Geschichten und teilen ihre Erfahrungen mit Depressionen.

Die Folgen von Stigmatisierung und Diskriminierung sind für Betroffene und Angehörige allgegenwärtig. Mutmachleute bewirken ein Umdenken in der Gesellschaft, denn psychisch kranke Menschen haben keine Lobby! Wir geben ihnen eine Stimme, damit sie heraustreten können aus ihrem Schattendasein.

Erfahrungen & Bewertungen zu Nora Fieling

1 Kommentar zu „Wenn Eltern sterben, ohne tot zu sein“

  1. Ich finde mich in diesem Text an vielen Stellen wieder. Auch ich saß oftmals aufmeinem Bett ohne zu atmen vor lauter Angst von meiner Mutter wieder kristisiert oder niedergemacht zu werden. Emotionaler Missbrauch ist schlimm. Letzten Endes habe ich dazu erst im Jahr 2022 bei einer Heilpraktikerin für Psychitherapie die Hilfe bekommen, die ich benötigt habe. Die beiden Therapien vorher haben nicht so viel bewirkt.

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