Als ich dachte, ich werde keine 18 Jahre alt …

Kinder haben Depressionen!? – Was für viele noch eine verächtliche Frage ist, ist meine Erfahrung. Depressive Anteile, Todessehnsucht und selbstverletzendes Verhalten kenne ich seit meiner Kindheit.

Depressive Züge zeigen sich bei Klein- und Vorschulkindern hauptsächlich über körperliche Symptome, wie z. B. Ein- und Durchschlafstörungen, Ess-Störungen (Ess-Verweigerung) als auch eine erhöhte Anfälligkeit für Infekte. – An all dies kann ich mich überhaupt nicht erinnern.

Ein weiteres Symptom ist jedoch die Rückentwicklung bereits erlernter Fähigkeiten bzw. eine fehlende Weiterentwicklung. Ich wurde nicht „trocken“ und da es keine organischen Ursachen gab, wurde meiner Mutter empfohlen, mit mir zu einer Psychologin bzw. Erziehungsberatungsstelle zu gehen. An diese Besuche kann ich mich kaum erinnern, aus Gesprächen weiß ich nur, dass es u.a. ein Selbstwertproblem war und ich etwas bräuchte, was nur ich kann. So kamen meine Geschwister und ich zur Musikschule. Laut Erzählungen von anderen, fing ich zudem an zu stottern. Zwar weiß ich, dass ich früher einige Zeit lang bei einem Logopäden in Behandlung war, doch mehr Informationen hat meine Erinnerung nicht zu bieten.

Gesehen wurde nur das, was sichtbar war

Es blieb bei ein paar Besuchen in der Beratungsstelle, immerhin war ich bald wieder „trocken“ und auch das Stottern ließ irgendwann nach. Was blieb und sich weiter entwickelte, war die Traurigkeit und Sinnlosigkeit in mir.

„Ich soll nicht so sensibel sein“ – sagten sie so oft, doch ich verstand nicht, was ich anders machen sollte. Wenn ich weinte, fragten sie abwertend, warum ich denn jetzt schon wieder rumheule.

Nichts konnte ich ihnen erklären, da es dieses Nichts in mir war, wofür ich keine Worte hatte.

Dieses Leere-Gefühl oder auch das Gefühl, fremd in der eigenen Familie zu sein. Dass ich nicht wusste, warum und wofür ich leben sollte, dass ich gerne sterben würde. – All dass konnte ich nicht sagen.

Ich fühlte mich fremd und anders – wollte aber „normal“ sein und dazugehören, also versteckte ich mich. Ich begann, meine Gefühle zu verbergen und meine Traurigkeit anders rauszulassen – ich weinte mich abends in den Schlaf und stellte mir vor, wie es wäre, eine unheilbare Krankheit zu haben bzw. was diese bewirken würde:

Ernsthaft krank wurde ich nie und zugleich doch – Depressionen

Ich war bestrebt, immer weniger Gefühle anderen Menschen gegenüber zu äußern bzw. zu zeigen. Vor allem natürlich die „schlechten“. Wut war in den Augen mancher damaliger naher Bezugspersonen ein nicht angebrachtes Gefühl und Traurigkeit … naja, was hatte ich schon zum traurig sein, bin doch noch so jung … also lachte ich und versuchte mich anzupassen. Ich setzte mir als Kind schon eine Maske auf, nur weil ich dazugehören und geliebt werden wollte.

Zugleich dachte ich, dass ich dieses Theater nicht lange aushalte und bestimmt keine 18 Jahre alt werde …

Meine Wut, Trauer und Gefühle der Todessehnsucht mussten irgendwie raus … also lies ich sie an mir aus. Ich verbrannte mich absichtlich an der heißen Herdplatte, schlug mir mit einem Hammer auf die Knochen, biss mir die Lippen blutig oder kratzte alte Wunden auf.

Einerseits waren dies Selbstverletzungen, die ich gut als „Unfall“ tarnen konnte (was mir auch geglaubt wurde), andererseits waren es Verletzungen, mit denen ich Aufmerksamkeit suchte. Ich bin zu ihr hin und hab ihr meine Hand gezeigt, mit der ich „aus Versehen“ an die Herdplatte kam – sie hat sich auch darum gekümmert, doch Liebe spürte ich nicht.

Einmal musste mein Vater mit mir im Sommer ins Krankenhaus fahren, ich war etwa in der 4. Klasse und hatte mir einen Mückenstich so sehr aufgekratzt, dass es zu einer 3cm großen Wunde wurde. Wundstarrkrampfgefahr. Eine Spritze im Krankenhaus, die Fahrt nach Hause, die Fahrt in den Sommerurlaub – und alles ist gut.

Die Narbe am Fußgelenk habe ich heute noch – die auf meiner Seele auch

Natürlich wurde ich gefragt, warum ich das mache – doch ich konnte nur die Schultern zucken, zumal die Frage verständnislos und verachtend gestellt wurde. Auch konnte ich es mir damals nicht wirklich selbst erklären. Selbstverletzendes Verhalten heute als Erwachsene jemand anderem zu erklären ist ja schon schwer. Wie erklärt man auch anderen diese immense innere Anspannung und den Druck in sich selbst? Erst im Nachhinein habe ich verstanden, dass dieses selbstverletzende Verhalten meine bizarre Überlebensstrategie war bzw. selten noch ist, ohne welche ich wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben wäre.

Anderen offen zu sagen, dass ich möchte, dass sie sich um mich kümmern, konnte ich nicht. Ich hatte ja auch alles – Essen, Kleidung, Urlaub, Musikschule …

Der Druck in unserer Famlie, der aus viel Streit und kalten Emotionen bestand, der Druck in der Schule, wo ich verschiedene Mobbingprobleme hatte und der Druck in mir, meiner Leere und Zerrissenheit, wurde immer größer, sodass der Druck in mir immer größer wurde …

Suizidversuch mit 12 Jahren

In der 8. Klasse bekam ich eine Physikklassenarbeit mit einer 5 wieder. Das hat mich so bedrückt, ich schämte mich und traute mich nicht, diese Arbeit meinen Eltern zu zeigen. Die Klassenarbeit war nicht der Auslöser, dafür jedoch der bekannte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte:

Zuhause klaute ich Schlaftabletten und nahm sie abends nach der Musikschulstunde ein. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin bzw. was danach alles genau passierte. Aufgewacht bin ich im Krankenhaus, wo mir meine Mutter erzählte, dass ich völlig benebelt und weggetreten war und mich in der Stube übergeben hätte.

Im Krankenhaus diagnostizierte man mir einen Kreislaufzusammenbruch, infolge meines schnellen Wachstums und das ich an diesem sommerlichen Tag wohl zu wenig gegessen und getrunken hätte. Nur meine ältere Schwester äußerte ein paar Tage später, als ich wieder zu Hause war, die Vermutung, dass ich Tabletten genommen hätte. Doch auch da bzw. ihr konnte ich nicht die Wahrheit erzählen – ich schämte mich und hatte Angst vor der Einweisung in eine Psychiatrie.

Im Nachhinein denke ich, es wäre das beste gewesen, was mir hätte passieren können.

In meinen ganzen Therapiegesprächen hat sich so viel herauskristallisiert und viele Zusammenhänge von früher werden mir immer klarer. Umso mehr verärgert es mich, dass meine Eltern mit mir nicht einmal mehr zur Beratungsstelle bzw. Psychotherapeutin gegangen sind.

Zugleich ärgert es auch mich selbst, dass ich nicht sagen konnte, was los ist, wie ich mich fühle oder das ich Tabletten genommen habe.

Das ich mich darüber ärgere, bringt jetzt nichts mehr. Ich werde in der Therapie lernen, damit umzugehen.

Was mich jedoch ärgert und das zu absoluter Berechtigung, ist der Umstand, dass so viele Menschen noch immer glauben, dass Kinder und Jugendliche keine Depressionen haben können.

Die Welt.de schrieb am 09.12.2014:

„Das Statistische Bundesamt zählte im Jahr 2000 noch 2145 Fälle in Deutschland. Zwölf Jahre später wurden 12.567 Jugendliche wegen einer Depression stationär behandelt.“ – 2013 schrieb der tagesspiegel.de, dass sich jedes Jahr 600 Jugendliche das Leben nehmen.

Wären meine familiären als auch nicht-familiären Bezugspersonen oder auch die Kinderärztin mir gegenüber aufmerksamer gewesen, hätte bestimmt einiges vermieden werden können. Wäre ich damals richtig behandelt worden, hätte ich heute vielleicht keine vernarbten Arme vom späteren Ritzen und vor allem nicht mit Depressionen, Angstzuständen oder Borderline-Symptomen zu tun.

Für Depressionen braucht man halt kein Mindestalter!

So wie es mir ging, erging und ergeht es noch vielen tausend anderen Kindern.

Und ich frage mich, was noch passieren muss, wieviele Kinder/Jugendliche noch sterben müssen, ehe Depressionen als eine ernsthafte, lebensbedrohliche Krankheit anerkannt werden, die nicht nur Erwachsene betreffen sondern auch Kinder und Jugendliche!?
Bildquelle: pixabay.com

Und nun?

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